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Neuer Roman von Jonathan FranzenVon den Zerreißproben einer Familie in den 70ern

Lesezeit 4 Minuten

Jonathan Franzen 

Auf den ersten Blick gleichen die Hildebrandts einer Festung der Frömmigkeit: Vater Russ ist protestantischer Assistenzpastor in einer Chicagoer Vorstadtgemeinde, Ehefrau Marion korrigiert seine Predigten, und die Kinder Clem, Becky, Perry und Judson scheinen sich in diesem religiösen Fluidum wohl zu fühlen. Der zweite Blick aber verrät, wie brüchig der Kitt von Glaube und Solidarität ist.

826 Seiten als Auftakt zur Trilogie

In all seinen Romanen brilliert der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen als Regisseur familiärer Zerreißproben. Diese dürfte die härteste werden, denn der 826-Seiten-Brocken ist nur der Auftakt einer geplanten Trilogie. Schon der Titel schillert faszinierend: Crossroads meint einerseits Scheidewege, andererseits heißt so die Jugendgruppe der Gemeinde.

Franzen Crossroads (1)

Schließlich ist „Crossroad“ ein von Blues-Kenner Russ geliebter Song von Robert Johnson, der angeblich dem Teufel seine Seele zum Preis höchster Gitarrenvirtuosität verkauft hat. Ähnlich heikle Versuchungen warten auf die Hildebrandts fast an jeder Straßenecke.

Alles beginnt am 23. Dezember 1971, also in der vertrauten Konstellation, dass an Feiertagen mit Harmoniezwang die Konflikte erst recht eskalieren. In dieses dramaturgische Korsett jagt Franzen nun den Starkstrom gefährlicher Gefühle.

Jonathan Franzen in Perfektion

Russ, 47, ist seiner in die Breite gegangenen Gattin überdrüssig und umso heftiger an der keineswegs trauernden Witwe Frances Cottrell interessiert. Der älteste Sohn Clem will moralische Selbstreinigung ausgerechnet im Kampfeinsatz in Vietnam betreiben, Schwester Becky driftet ins Vagabundenleben mit dem Folkmusiker Tanner Evans ab. Der intellektuelle Überflieger Perry schließlich verkauft in der Schule nicht nur Drogen, sondern will seine Geistesblitze zuerst mit Marihuana, dann mit Kokain noch greller zucken lassen. Ein Selbstmordkommando.

Der Autor

Jonathan Franzen wurde am 17. August 1959 in Western Springs bei Chicago in den USA geboren. Für seinen dritten Roman „Die Korrekturen“ bekam er 2001 den National Book Award und war Finalist für den Pulitzer-Preis. Folgende, stets umfangreiche Werke wie „Die 27. Stadt“, „Schweres Beben“, „Freiheit“ und „Unschuld“ mischten Familienkonflikte mit gesellschaftspolitischen Themen. „Crossroads“ ist nun Auftakt der Trilogie „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“, die das Schicksal der Hildebrandts über drei Generationen verfolgt und als wohl ehrgeizigstes Projekt der Gegenwartsliteratur gilt. (Wi.)

Jede dieser selbstsüchtigen Aktionen bedroht den Familienfrieden, wobei hier niemand der Mechanik von Sünde und Buße entkommt. Mit fast altmeisterlicher Perfektion glücken dem Autor die Perspektivwechsel zwischen den Figuren, deren geheimste Hintergedanken und Selbsttäuschungen er hellhörig belauscht.

Anfangs beherrscht Russ die Szene, ein einst schneidiger Gottesmann, dem nun aber der intrigante Zeitgeistsurfer Rick Ambrose die Schau bei den Crossroads-Teenagern stiehlt. Wie ein Sektenguru dirigiert er die geforderten Selbstoffenbarungen, „das crossroadtypische Aufbauschen emotionaler Kratzer zu notaufnahmereifen Traumata“.

Russ schlimmste Demütigung geschah vor drei Jahren, als ihn die Jugendgruppe beim Ausflug nach Arizona zum Ausstieg als Betreuer nötigte. Die Affäre mit Frances glaubt er als eine Art Entschädigung zu verdienen, doch der Preis ist hoch: „Hast du irgendeine Ahnung, wie peinlich es ist, dein Sohn zu sein?“, fragt Clem.

Worte richten den größten Schaden an

Auf der langen Romanstrecke passiert eine Menge, vom Eklat auf der Cocktailparty über den Unfall im Schneesturm bis zur bedrohlichen Reise ins Navajo-Gebiet. Die schlimmsten Wunden aber reißen hier die vitriolgetränkten Worte. Bei allen präzisen Blicken auf die friedensbewegte, drogenberauschte Hippie-Ära geht es Franzen doch vor allem um die Begierden und Nöte der ebenso schonungslos wie warmherzig gezeichneten Charaktere.

Während bei den Kindern Geschwisterliebe rasch in Rivalität umschlägt, steht die betrogene Mutter lange eher am Rande. Doch dann die Beichte bei der heimlich aufgesuchten Psychotherapeutin. Ihre fatale Jungmädchenliebe zu einem verheirateten Mann, unerwünschte Schwangerschaft, tagelange Vergewaltigung durch einen Abtreibungsvermittler, danach totaler Nervenzusammenbruch ~ all das verbirgt Marion vor Russ und den Kindern.

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Dieses Geständnis katapultiert die ohnehin packende Handlung auf ein noch höheres Intensitätsniveau. Und zeigt, was die Mitglieder dieser zerrissenen Familie eint: ein überwältigendes Bedürfnis nach Erlösung. Ob sich dieses erfüllt, möchte der Leser nach diesem großartigen Auftakt der Trilogie unbedingt wissen.

Jonathan Franzen: Crossroads. Roman, aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt, 826 S., 28 Euro. Lit.Cologne-Lesung mit Zuschaltung des Autors: 25.10., 19 Uhr, Volksbühne am Rudolfplatz.