Neuer Roman „Die Enkelin“Bernhard Schlink über die Folgen einer Flucht aus der DDR
Köln – Hat Birgit die Wechselwirkung von Alkohol und Schlaftabletten nur unterschätzt, oder wollte sie wirklich sterben? Eine Antwort auf diese Frage wird Kaspar nie mehr bekommen. Als er eines Abends aus seiner Buchhandlung heimkehrt, findet er seine Frau ertrunken in der Badewanne. Einen Abschiedsbrief hat sie nicht hinterlassen.
Dass sich hinter dem regelmäßigen Griff zur Flasche ungelöste Probleme verbargen, hatte Kaspar längst geahnt. Welches Opfer Birgit zu Beginn ihrer Beziehung tatsächlich bringen musste, erfährt er erst durch die Aufzeichnungen, auf die er in ihrem Nachlass stößt.
Unter Gleichgesinnten in der Provinz Brandenburgs
Um mit ihr zusammen sein zu können, verhalf Kaspar ihr 1965, kurz nach dem Kennenlernen, zur Flucht von Ost- nach Westberlin - ohne zu ahnen, dass sie dafür ihre neugeborene Tochter zurücklassen musste.
Zur Person
1944 in Großdornberg, im heutigen Bielefeld kam Bernhard Schlink zur Welt. Während die Eltern beide Theologen waren, studierte der Sohn Jura und arbeitete als Hochschullehrer. Seinen Erfolg als Schriftsteller feierte Schlink vor allem mit seinem Roman "Der Vorleser". Schlink lebt heute in New York und Berlin. Er hat einen Sohn, der Zahnarzt ist. (EB)
In seinem neuen Werk "Die Enkelin" befasst Bernhard Schlink sich nicht zum ersten Mal mit der deutsch-deutschen Geschichte. Diesmal, heißt es, habe ihn ein Ereignis aus seiner eigenen Vergangenheit auf die Idee zum Plot gebracht. Auch er habe Mitte der 60er Jahre als Student in Berlin einer jungen Frau zur Flucht verholfen.
Was aus ihrem Baby wurde, hatte Birgit nie erfahren. Eine Zeit lang schien sie das Thema aber zumindest erfolgreich verdrängt zu haben. In den letzten Jahren aber kehrten die Erinnerungen verstärkt zurück. Sie beschloss, entnimmt Kaspar den Aufzeichnungen, ihre Tochter zu suchen und darüber einen Roman zu schreiben.
Nachdem Birgit ihr Vorhaben nicht mehr in die Tat umsetzen kann, beschließt Kaspar, ihr Vermächtnis zu erfüllen. Mithilfe von Birgits Aufzeichnungen gelingt es ihm, seine Stieftochter Svenja ausfindig zu machen. Doch was das versöhnliche Ende der Geschichte sein könnte, ist erst der Beginn eines neuen, nicht minder komplizierten Kapitels. Nach einer schwierigen Jugend fand Svenja schließlich Halt bei einem Anhänger völkischen Gedankenguts und lebt mittlerweile mit ihm und der gemeinsamen Tochter Sigrun unter Gleichgesinnten in einer Siedlung in der brandenburgischen Provinz.
Der Kampf um die Enkelin beginnt
Zu Sigrun fühlt Kaspar auf Anhieb eine enge Bindung. Zwar erschreckt ihn, wie sehr die 14-jährige bereits die nationalistische Gesinnung ihres Elternhauses verinnerlicht hat. Gleichzeitig aber erkennt er unter der Oberfläche einen neugierigen Teenager mit wachem Geist und musischer Begabung. Fortan kämpft er um Sigrun und schafft es am Ende sogar, dass diese ihr angelerntes Weltbild hinterfragt. Die Umstände, unter denen dies geschieht, hätte er sich jedoch anders gewünscht.
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Es fällt schwer, "Die Enkelin", in eine Kategorie zu packen. Schon die Frage, ob das Etikett "Familiengeschichte" zutrifft, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Es geht um eine Gruppe Menschen, die, oberflächlich betrachtet, alle auf irgendeine Weise in verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander stehen. Und doch bleibt jeder für sich und grenzt sich, mal offen, mal subtil, von den anderen ab. Die einzige von wirklicher Zuneigung geprägte Beziehung entsteht zwischen Kaspar und Sigrun, also den beiden Personen, die in jeder Hinsicht, sei es das Alter oder der Verwandtschaftsgrad, am weitesten voneinander entfernt sind. Die Figur der Sigrun ist es auch, die dem Leser das Buch letztlich sympathisch macht. Während etwa ihre Eltern über weite Strecken eher stereotyp gezeichnet wirken und wenig Empathie hervorrufen, nimmt man der Heranwachsenden den inneren Konflikt vorbehaltlos ab: Einerseits sind da das anerzogene Weltbild und der Wunsch eine gute Tochter zu sein. Demgegenüber stehen Offenheit und Neugier auf all das, was ihr Kaspar nahebringt.
Dass Schlink die Gruppe völkischer Siedler, in deren Mitte das Mädchen aufgewachsen ist, in den neuen Bundesländern ansiedelt, ist mit Sicherheit kein Zufall: Immerhin befand sich dort einst der Staat, dem Sigruns Großmutter entfloh, um ein freies Leben zu führen. Dass sich Jahrzehnte später ausgerechnet dort Menschen ansiedeln, um der Demokratie zu entsagen, sagt mehr über diese Gruppierungen, zu denen auch Reichsbürger und selbst ernannte "Querdenker" zählen, als Worte es jemals könnten.
Bernhard Schlink: Die Enkelin, Roman, Diogenes, 368 S., 25 Euro