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Spannend und verstörendMit „Squid Game: The Challenge“ macht Netflix aus der Serie eine Realityshow

Lesezeit 4 Minuten
Squid Game: The Challenge. Season 1 of Squid Game: The Challenge. Cr. Courtesy of Netflix  2023

Vertrauter Anblick: Die Kandidaten laufen über die MC-Escher-Treppe.

Squid Game war ein Riesen-Erfolg für den Streaming-Anbieter Netflix. Doch statt einer zweiten Staffel gibt es nun ein anderes Bonbon für Fans. Und das ist durchaus verstörend.

Als im Jahr 2000 zum ersten Mal „Big Brother“ das Licht der deutschen TV-Bildschirme erblickte, wurde vielerorts der Niedergang der Kultur, gar des ganzen Abendlandes beschworen. Mittlerweile gehören Formate, in denen sich Menschen in ungewöhnlichen oder gar Ausnahmesituationen von Kameras beobachten lassen, zum Fernsehalltag. Es wird um die Wette gebacken, um eine vermeintliche Modelkarriere gerungen oder einfach nur auf oft wahrlich unterstem Niveau herumgepöbelt. Teilnehmerinnen und Teilnehmer erlangen oft eine Popularität, die über die Sendung hinausreicht und zumindest dafür langt, in anderen Formaten anzutreten.

Aus Fiktion wird Wirklichkeit

Als Netflix am 17. September 2021 „Squid Game“ veröffentlichte, wurde die koreanische Serie gleichermaßen bejubelt als hintersinniger Kommentar zur nicht endendenden Reality-Welle und für ihre Brutalität und den Zynismus scharf kritisiert. Dabei entwickelte sie sich zu einem der erfolgreichsten Netflix-Produkte: Allein in den ersten vier Wochen wurde „Squid Game“ von 120 Millionen Kundenkonten abgerufen (im Vergleich dazu kam die erste Staffel von „Bridgerton“ auf 82 Millionen Aufrufe). Die Popularität nahm bisweilen zweifelhafte Züge an: So berichtete der Bayerische Rundfunk von Schülern, die die Wettbewerbe nachspielten und die Verlierer anschließend ohrfeigten.

Squid Game: The Challenge. Season 1 of Squid Game: The Challenge. Cr. Courtesy of Netflix 2023

Die Teilnehmer tragen allessamt die grünen Trainingsanzüge.

Nun geht der Streamingdienst in die nächste Runde. Doch statt der bereits angekündigten zweiten Staffel startet am Mittwoch „Squid Game: The Challenge“ (Die Herausforderung). Wie auch in der Serie kämpfen hier „real“ 456 Menschen um 4,56 Millionen Dollar, in dem sie Kinderspiele spielen. Allerdings gibt es zwei große Unterschiede: Selbstredend werden die glücklosen Kandidaten weder umgebracht noch als Organbanken missbraucht. Aber ansonsten hat man beim Zuschauen das Gefühl eines andauernden Dèjá-vus an der Grenze von Fiktion und Wirklichkeit.

Tausende Bewerbungen aus aller Welt

Das beginnt bei den grünen Trainingsanzügen, die die Kandidaten tragen, über originalgetreu nachgebauten Kulissen bis hin zu den Spielen mit ihren unterschiedlichen Requisiten. Gedreht wurde in Studios anderthalb Stunden nördlich von London, es könnten aber genauso gut die Kulissen sein, die man in Korea einfach nach Drehende hat stehenlassen. Geschlafen wird in den fast käfighaften Stockbetten, der Weg zu den Spielen für durch das bonbonbunte MC-Escher-Treppenhaus. Die Puppe, zu der die Spielerinnen und Spieler gelangen müssen, könnte ein Direktimport sein. Man sieht den Mitspielern an, wie fasziniert sie von der Tatsache sind, plötzlich in den Kulissen zu stehen, die sie bislang nur vom Fernseher kannten.

Squid Game: The Challenge. Episode 102 of Squid Game: The Challenge. Cr. Courtesy of Netflix  2023

Kandidaten scheitern mehrheitlich dabei, den Regenschirm aus dem Zuckerplätzchen herauszukratzen.

Rund 81.000 Frauen und Männer aus aller Welt hatten sich beworben, die einzige Voraussetzung war, dass sie Englisch sprechen müssen. In einem Castingprozess wurden die finalen 456 ausgewählt, die Zusammensetzung orientiert sich Standard-Reality-Regeln: Da gibt es den Schüchternen, den Draufgänger, den Angeber, den Intriganten — beiderlei Geschlechts. In sogenannten „Confessionals“ berichten sie direkt an die Zuschauer gewandt von ihren Motivationen, ihren Strategien und dem Grund, warum sie diese immense Summe gewinnen wollen. Da bekommt man das typische Dumm-Geplapper zu hören, was man von allen Realityshows mit Wettkampfmodus kennt: „Ich mache gute Miene, aber ich denke nur eines: Wie kann ich gewinnen?“ Oder: „Gott hat mich so geschaffen, wie ich bin — warum sollte ich mich verändern?“

Natürlich weiß man, dass es hinter den Kulissen ein Drehbuch gibt, und ob die Kandidaten ihre echte Lebensgeschichte erzählen oder etwas Ausgedachtes zum Besten geben, ist wie immer nicht zu überprüfen. Steht von Anfang an fest, wer wann rausfliegt? Dass möglichst interessante Typen sich lange im Spiel halten? So ist es doch eine regelrechte Überraschung, als ein strippenziehender Bösewicht an unvorhergesehener Stelle den Abgang macht. Solche Eliminierungen von wichtigen Figuren kennt man ansonsten von „Game of Thrones“. Aber vielleicht haben sich die Macher von George R. R. Martin inspirieren lassen.

So oder so, „Squid Game: The Challenge“ packt – perfekte Popcorn-Unterhaltung für die Couch.

Nur dass die ausscheidenden Kandidaten wie von einer Paintball-Pistole getroffen mal mehr, mal weniger theatralisch zu Boden sinken – daran kann und will man sich nicht gewöhnen.


Regelrechter Preisregen

Bei Preisverleihungen war „Squid Game“ ebenfalls ein großer Erfolg. So gab es bei den Emmys sechs Auszeichnungen, unter anderem für Regisseur Hwang Dong-hyuk, Hauptdarsteller Lee Jung-jae und Lee Yoo-mi als Nebendarstellerin. Damit waren sie die ersten Koreaner und Asiaten überhaupt, die einen Emmy gewinnen konnten. Lee Jung-jae und seine Kollegin Jung Ho-yeon erhielten Screen Actors Guild Awards. Bei den Golden Globes siegte O Yeong-su, der den ältesten Teilnehmer verkörperte, als Bester Nebendarsteller. Die People's Choice Awards, die Critic's Choice Television Awards, die Independent Spirit Awards würdigten die Serie in unterschiedlichen Kategorien. (HLL)