Literatur-Nobelpreisträger im Interview„Ich wollte einfach ein besseres Leben!“
- Unaufgeregt und eindringlich – was für seine Bücher gilt, gilt auch für Abdulrazak Gurnah (73) selbst.
- Der aktuelle Literatur-Nobelpreisgewinner sprach mit Axel Hill über Flüchtlinge, Vorurteile und Hitchcock-Momente.
Fünf Monate nach der Verkündung des Preises – haben Sie mittlerweile realisiert, dass Sie Teil der Gruppe sind, zu der Yeats, Shaw oder Thomas Mann gehören?
Es hat gar nicht so lange gedauert. Und wenn man in meinem Geschäft ist – schreiben und Literatur unterrichten – weiß man, dass viele Menschen, die man bewundert, auf dieser Liste sind. Und manchmal denkt man, jemand sei auf dieser Liste – obwohl er das nicht ist (lacht). Aber es ist wunderbar, gesagt zu bekommen, dass man Teil dieses Teams ist.
Zum Zeitpunkt der Verleihung gab es Ihre Bücher nicht in Deutschland. War das Schönste an der Auszeichnung, dass Sie so eine größere Leserschaft erreichen?
Sicher. Aber ich wusste und weiß nicht wirklich, wo meine Bücher verfügbar sind. Ich schreibe sie, jemand bringt sie heraus – und wenn sie veröffentlicht sind, bin ich glücklich. Denn es bedeutet, dass das Buch nicht verloren ist. Oder etwas bleibt, das man in einem Karton unter dem Bett versteckt.
Auf Deutsch
Zwei Bücher Abdulrazak Gurnahs sind jetzt auf Deutsch bei Penguin erhältlich. „Das verlorene Paradies“ (336 S., 25 Euro) von 1994 erzählt die Geschichte des Jungen Yusuf, der für viele Jahre die Schulden seines Vaters bei dessen Gläubiger abarbeiten muss.
In „Ferne Gestade“ aus dem Jahr 2001 (416 S., 26 Euro) treffen sich in England zwei Männer wieder, deren Schicksal durch Ereignisse in ihrer alten Heimat Sansibar miteinander verknüpft sind. Weitere Bücher auf Deutsch sollen folgen. (HLL)
Das Nobelpreiskomitee nennt Flüchtlinge als eines Ihrer großen Themen. Sie selbst verließen 1968 nach der Revolution mit 20.000 Toten Ihre Heimat Sansibar – aber sagen von sich, dass Sie sich nicht als Flüchtling bezeichnen. Warum?
Ein Flüchtling verlässt sein Land aufgrund von Gewalt oder Krieg – wie wir das gerade erleben –, weil er keine andere Option hat. Obwohl es Verfolgung in meinem Land gab, war ich nicht direkt bedroht. Es ging nicht darum, dass ich gehen muss, um mein Leben zu retten. Ich wollte gehen, ich wollte ein besseres Leben.
In „Ferne Gestade“ ist also ihrer Definition nach die Figur Latif kein Flüchtling?
Ja, auch wenn sich Latif als Flüchtling präsentiert. Das ist ein Narrativ, das er kreiert: Ich bin ein Flüchtling, helft mir also bitte. Aber das Wort wird mittlerweile zu locker verwendet. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, wie ernst die Situation eines Flüchtlings ist.
So wie im Moment bei den Menschen aus der Ukraine...
Absolut! Sie brauchen unsere Gastfreundlichkeit. Wir können sie nicht fortschicken.
Nach der Lektüre der beiden Büchern hat man das Gefühl, dass Fremde schlecht zu behandeln in allen Menschen steckt – und dass auch die Erfahrung von Rassismus nicht davor feit, selber Vorurteile zu pflegen.
Das ist in allen Kulturen so – es kommt aber darauf an, wie man damit umgeht. „Das verlorene Paradies“ spielt an einem Ort, der multikulturell ist. Dabei ist keine stark genug, um die anderen zu unterdrücken. So wird permanent verhandelt, austariert, und irgendwie bekommen sie es hin – auch wenn sie weiterhin ihre Vorurteile pflegen.
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Nun gibt es eine Macht, die viel stärker ist und verlangt, dass man ihr folgt. Und es gibt keine Verhandlungen mehr.
In den deutschen Ausgaben weist ihr Verlag darauf hin, dass beleidigende, abwertende Worte benutzt werden. Glauben Sie, Ihre Bücher brauchen solche Warnhinweise?
Nun, sie dachten, es sei nötig (lächelt). In der englischen Ausgabe gibt es solche Erklärungen nicht, da würde ich auch darauf bestehen, dass es so bleibt, wie es ist. Aber ich würde nie ein schlechtes Wort über meinen deutschen Verlag sagen (lacht).
Ihre Geschichten entfalten sich Schicht um Schicht um Schicht, es werden immer wieder neue Charaktere kurz eingeführt, dann geht es zurück zur vorherigen Geschichte und so fort. Wie hat sich Ihr Erzählstil entwickelt?
Es geht mir darum, dass man die große Bedeutung von Geschichten anerkennt – die Bedeutung dessen, wie Menschen die Welt betrachten. Und wie sie davon erzählen. Geschichten sind ein Weg, um die Welt, in der wir leben, zu verstehen.
In beiden Büchern gibt es Figuren mit dem Namen Abdulrazak – ist das ihr Hitchcock-Moment?
(lacht) Nicht ganz. In „Paradies“ bezieht es sich auf einen Dichter, über den ich in einem anderen Buch gelesen hatte. In „Ferne Gestade“ heißt ein Gärtner so. Und Gärtner sind Menschen, die etwas herstellen – wie auch Schriftsteller. Und deshalb habe ich ihn Abdulrazak genannt.