François-Xavier Roth„Ich bin schockiert über die Ergebnisse des Lockdowns“
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Das Gürzenich-Orchester bricht in der Saison 2021/22 zu neuen Ufern auf, besinnt sich gleichzeitig auf die Ursprünge.
François-Xavier Roth kämpft mit dem Ensemble dafür, dass auf der Bühne wieder Zeiten wie vor der Pandemie einkehren.
Jan Sting sprach mit ihm über Programm und Perspektiven.
Herr Roth, es dürfte nach so langer Pause ein hoher Erwartungsdruck da sein. Die neue Saison soll mit einem Aufbruch verbunden sein. Wie wollen Sie diese Stimmung musikalisch entfachen?
Für uns ist jetzt sehr wichtig, dass wir uns darauf besinnen, was uns im Blut liegt. Das gilt natürlich für alle Orchester, aber für das Gürzenich-Orchester ganz besonders. Was ist Köln? Die Menschlichkeit, und dass wir die Dinge teilen. Musik ist ein wichtiger Aspekt des Zusammenlebens.
Aber Netflix und Pizza auf dem Sofa haben das Publikum vielleicht träge gemacht.
Ich bin schockiert über die Ergebnisse des Lockdown-System für die Kultur in Köln. Die gegen die lokale Kultur gerichteten Entscheidungen der Corona-Politik, die nicht vom Rat der Stadt zu verantworten sind, machen mich sehr betroffen. Ich habe während der Pandemie mit unterschiedlichen Orchestern zusammengearbeitet, für mich als Gürzenich-Kapellmeister war die Situation in Köln besonders schlimm. Wir arbeiten mit dem Orchester sehr intensiv daran, wie wir die Leute wieder erreichen können, in die Oper zu gehen, in Konzerte, ins Theater. Auch für die Familien ist es wichtig, dass nicht das Gefühl aufkommt, jeden Abend eine Serie gucken zu müssen. Sie möchten vielleicht mit Freunden ins Konzert gehen, und sagen, dass sie eine neue Musikrichtung für sich entdeckt haben.
Für die Streamingkonzerte gab es Spuckschutz und Einzelpulte. Das hatte für die Musiker doch bestimmt etwas von Strafarbeit. Wie kann ein Orchester damit trotzdem große Werke spielen?
Auf der Bühne arbeiten wir gerade mit dem ganzen Orchester an einem Modell, den gesamte Bühnenraum und Backstage hygienisch sicher zu gestalten. Wir spielen gleich mehrere Werke von Richard Strauss, da brauchen wir eine große Besetzung. Richard Strauss hat für Köln und dieses Orchester gearbeitet. Hier gab es die Uraufführung von „Don Quichotte“ und „Till Eulenspiegel“. Unsere Hommage zieht sich durch die ganze Spielzeit, das ist auch ein Statement.
Till Eulenspiegel als Schelmenstück – was sagt uns das heute?
Sein Sarkasmus richtet sich auch gegen uns. Was haben wir nicht alles akzeptiert durch die Krise. Der Till könnte uns sagen, ob wir wirklich diesen Riesenapparat an Beschränkungen gebraucht haben. Ich hoffe, es war das letzte Mal. Noch sitzen wir alle in einem Boot mit diesen Schwierigkeiten. Aber das ist nicht leicht, hat nichts Anekdotisches.
Verträge und Termine
Verträge
François-Xavier Roths Vertrag als Kapellmeister und Generalmusikdirektor der Stadt Köln. läuft zum Ende der Spielzeit 2024/25 – mit einer Option bis zur Spielzeit 2026/27.Birgit Meyers 2022 auslaufender Vertrag wird auf Wunsch der Stadtspitze nicht verlängert. Am 1. September 2022 übernimmt Hein Mulders die Intendanz der Oper Köln.
Termine
In der Oper dirigiert Roth in der kommenden Spielzeit „Hänsel und Gretel“ (19.12.) und Berlioz „Béatrice et Bénédict“ (30.4.).
Mit dem Gürzenich-Orchester hat er folgende Termine:5.9.: Montalbetti/Elgar/Schubert – Solistin Sol Gabetta19.9.: Brahms/Bruckner – Solisten Torsten Janicke/Bonian Tian16.1.: Rameau/Žuraj/Strauss – Solist: Jean-Guihen Queyras;12.2.: „Die Soldaten“, konzertante Aufführung der Oper16.2.: Matalon, Metropolis rebootet8.5.: Janáček, Feldman, Strauss – Solist Antoine Tamestit19.6.: Schubert, Ligeti, Bruckner mit Jean-Guihen Queyras. (jan)
Was bedeutete die Pandemie für Ihre Musiker, als sie nicht mehr vor Publikum spielen konnten?
Musikalisch war es schizophren. Ich arbeite auch mit der freien Szene und kenne viele, die nun in ganz anderen Berufen arbeiten müssen. Ich hoffe, die protegierten Ensembles wissen ihre Situation zu schätzen.
Wie haben Sie die Zeit der Pandemie erlebt?
Ich habe mich mit einer Gruppe von Menschen getroffen, die auf der Straße leben. Wir haben zusammen gegessen, und ich habe ihnen Kleidung gegeben. Heute gibt es leider viel mehr Leute, die sehr arm geworden sind, und das ist eine Tragödie für uns als Gesellschaft. Wir können die Leute nicht vergessen. Wir brauchen eine Haltung als Bürger.
Wenn es nun einen Neuanfang gibt, auf was freuen Sie sich ganz besonders?
Besonders toll ist „Metropolis“, der Stummfilm von Fritz Lang mit einer Musik, die der argentinische Komponist Martin Matalon für das Gürzenich-Orchester und das Orchestre de Paris geschrieben hat. Das ist wie ein Tsunami und lebt vom Kontrast der Modernität dieser Musik mit ihrer Elektronik und der Stimmung dieses alten Films. Im Februar ist die Uraufführung. Und ich freue mich auf Dirigenten wie Dimitrij Kitajenko, Michael Sanderling oder James Conlon. Sie sind so wichtig für das Orchester und das Publikum. Oder die Dirigentin Elim Chan: Sie ist unglaublich begabt und hat eine große Zukunft.
Schauen wir auf die Oper: Wollen Sie Birgit Meyer mehr Spielraum in ihrer letzten Saison als Intendantin geben? Sie selbst werden nur bei zwei Aufführungen am Pult stehen. Die Planung war aufgrund der Pandemie sehr kurzfristig.
Normalerweise planen wir zwei, drei Jahre im Voraus. Wir mussten nun alles neu terminieren. Und ich liebe „Hänsel und Gretel“. Ich habe das Stück als Kind gehört und hatte so eine Angst. Am Ende war ich zufrieden. Aber es gibt außerdem die Kölner Erstaufführung von Berliozs „Béatrice et Bénédict“. Und nicht zu vergessen sind „Die Soldaten“ von Zimmermann, deren Uraufführung das Gürzenich-Orchester 1965 gefeiert hat. Wir führen das Stück nun in einer Koproduktion der Oper Köln und des Gürzenich-Orchesters konzertant in der Philharmonie auf.
Mit der Entscheidung über Gastdirigenten und ständige Musiker haben Sie mehr Kompetenzen in der Oper erhalten. Was wird sich ändern?
Es bleibt alles, wie es früher war. Natürlich sorge ich als Generalmusikdirektor, und das ist total normal, für ein Qualitätsniveau der Gastdirigenten. Ich freue mich sehr auf die zukünftige Zusammenarbeit mit dem designierten Intendanten Hein Mulder, den ich willkommen heiße. Und ich bin sehr glücklich, mit einer besonderen Spielzeit den Abschluss einer erfolgreichen Intendanz von Frau Doktor Meyer zu feiern.