Eine Welt auf der KippeSchauspiel Köln spielt Dennis Kellys „Der Weg zurück“
Köln – „Warum können wir nicht verlernen? Warum können wir nicht zurückgehen?“ fragt sich ein Mann, dessen Frau bei der Geburt der gemeinsamen Tochter gestorben ist. Jahrelang hatten sie auf natürlich Wege versucht, ein Kind zu bekommen. Erst nach mehrfacher künstlicher Befruchtung wurde Cas schwanger. Doch eine Zusatzbehandlung war zu viel und führte dazu, dass sie bei der Entbindung verblutete. Zurück bleibt der Vater mit dem Baby – verzweifelt und zweifelnd: „Warum können wir nicht zurückgehen?“
Auf einen Blick
Das Stück: Eine Abrechnung mit all jenen, die sich Zukunft und Fortschritt verweigern.
Die Regie: Fast schon puristisch inszeniert von Moritz Sostmann, der dem Gesagten sehr viel Raum lässt – meistens.
Das Ensemble: Durch die Bank exzellent. (HLL)
In seinem neuesten Stück „Der Weg zurück“ spielt der britische Autor Dennis Kelly („Waisen“) mit der Idee eines Was-wäre-wenn: Was wäre eine Welt ohne Wissenschaft, Fortschritt, Medizin?
Erzählt wird die Geschichte des Babys
Für seine, bei der Premiere bejubelte, Inszenierung im Depot 2 verzichtet Moritz Sostmann auf die bei ihm ansonsten üblichen Puppen – sie tauchen höchstens als Requisite oder Statisterie auf. Stattdessen erlebt man sechs Schauspieler so pur und unmittelbar, wie man es bei ihm sonst nicht kennt. Das Sextett agiert mal solo, mal paarweise und erzählt in einzelnen Szenen die Geschichte des Mädchens Dawn, jenes Babys aus der ersten Szene, und ihrer Nachkommen.
Angetrieben von ihrem Vater (Seán McDonagh) und der fortschrittsfeindlichen besten Freundin der Mutter wird Dawn (Anna Stieblich) Teil einer Gruppe von Aktivisten, denen sich auch ihr jugendlicher Liebhaber Jonathan (Kei Muramoto) anschließt. Bei einer der immer mehr von Gewalt geprägten Aktionen kommt Jonathan ums Leben – und Dawn bringt Zwillinge zur Welt.
Jahre später gehören dieses Mädchen und dieser Junge zu einem „Nationalen Regressionsrat“, der das Land mit seinen rigiden Regeln in Schach hält. Als die 19-Jährige (Kristin Steffen) schwanger wird, verstößt ihr Bruder (Paul Basonga) sie. Und auch sie überlebt die Geburt ihres Sohnes nicht.
„Wie liebt man, wenn man ,nichts weiß’?“
In fast märchenhaftem Ton berichtet ein Erzähler (Andreas Grötzinger) wie dieser Junge von der Gemeinschaft ausgestoßen, gefoltert und schließlich ermordet wird, nicht ohne – man kann es sich fast schon denken – noch ein Kind zu zeugen.
Dieses Mädchen (erneut Kristin Steffen) wächst in einer Welt auf, in der nur noch einsilbige Worte verwendet werden dürfen – und jegliche Fantasie und Forschungsgeist verboten sind. Aber natürlich kann das rigoroseste System neugierige Kinder nicht stoppen, sich zumindest zu fragen: „Wie liebt man, wenn man ,nichts weiß’?“
In dieser Welt, die mehr als nur auf der Kippe steht, lässt Sostmann sein Team auf einem abgeschrägten Podest (Bühne: Christian Beck) agieren – und sich gegenseitig mit Farbe beschmieren. Was auf dem Papier nach einem mäßigen Regietheater-Einfall klingt, schafft auf der Bühne eine sinnliche, ja rauschhafte Vermittlungsebene.
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Mal spielerisch, mal aggressiv, mal erzählend, mal erotisch wirkt der Einsatz der Farben, die mit dem Pinsel auf das das Podest bedeckende Tuch aufgetragen oder auch direkt aus dem Eimer über den Körper den Gegenübers geschüttet werden. Und wenn sich Anna Stieblich und Kei Muramoto als frisch Verliebte in der feuchten Farbigkeit wälzen, tun sie dies mit einer tänzerischen Eleganz.
Ist das nun der Abend, der mit Querdenkern und Reichsbürgern abrechnet? Diesen gedanklichen Spielraum lässt der Autor sicherlich zu, Moritz Sostmanns Inszenierung verlässt sich da ganz auf den Text – und auf die Fantasie der Zuschauer. Die ja noch nicht verboten werden konnte.
105 Minuten (keine Pause). Wieder am 4. und 23. Juni, jeweils 20 Uhr, Weitere Termine in der nächsten Spielzeit ab 11. September. Karten-Tel. 0221/221 28400.