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Konzert in der Lanxess-ArenaChase Atlantic in Köln: Hier brechen sich Gefühle Bahn

Lesezeit 4 Minuten
Mitchel Cave mit Mikrofon auf der Bühne der Lanxess-Arena.

Chase Atlantic gastierten in der Kölner Lanxess-Arena. 

Zwar nicht mit der ganzen Besetzung, aber mit viel Energie trat die australische Band Chase Atlantic in der Lanxess-Arena auf.

Wenn jemand „lost“ ist, dann ist er verloren, hat sich verirrt oder wird vermisst. Kann aber auch bedeuten, sich in etwas zu verlieren, darin zu versinken, völlig aufzugehen. Mit mehr als 7,5 Milliarden Streams und 840 Millionen YouTube-Aufrufen gehören Chase Atlantic definitiv nicht zu den Losern. Und dass sie sich mit ihrem vierten Album „Lost in Heaven“ (2024) stilistisch auf Abwege begeben haben, kann man ihnen auch nicht vorwerfen. Vermisst wird Sonntag in der bis unters Dach ausverkauften Lanxess Arena trotzdem einer: Gitarrist und Saxofonist Clinton Cave.

Auch beim dritten Deutschland-Konzert der Australier fehlt der 31-Jährige. Er muss sich noch von den Folgen eines Verkehrsunfalls erholen, kann zwar schon wieder mitreisen, ist aber in Köln noch nicht fit genug für die Bühne. Da, wo das Saxofon fehlt, wird es dazu gemischt. Den Titel der aktuellen Tour – „Lost in Europe & UK“ – darf man getrost programmatisch verstehen. In knapp 90 Minuten verlieren sich die hingerissenen Fans im Mix aus Alternative Rock, Pop und HipHop, Post-Grunge, R’n’B reloaded und Electronic Emo. Im Wechsel dräut Dunkelheit, bricht sich ein aggressiver Grundton Bahn, um dann wieder, wie in „Demon Time“, mit reflexiven Passagen kontrastiert zu werden, die den Druck rausnehmen.

Kreisch-Chöre von den Kölner Rängen

Darin vollkommen aufzugehen, fällt den „Angels“, wie sich die meist weiblich lesbaren und unter 20-jährigen Fans selbst nennen, nicht schwer. Überall leuchten verzückte Gesichter, winken Arme, formen Lippen Silbe für Silbe, Wort für Wort, Satz für Satz, die Texte von Stücken wie „Die for me“, „Heaven and back“ oder „Okay“. Das Einzige, was dieser Versunkenheit Abbruch tun könnte, sind die Kreisch-Chöre aus dem Innenraum und von den Rängen. Die aber, als begeisterte Reaktion auf den Moment, durchaus ihre Berechtigung haben: hier brechen sich Gefühle ungefiltert Bahn.

Was ziemlich großartig ist: mit den zwei schmaleren seitlichen Leinwänden und der gigantischen im Zentrum, wird für die visuelle Abbildung des Konzerts  die volle Breitseite der Arena genutzt, So haben auch die in der „Ausguck-Area“ direkt unterm Dach gute Chancen, mitzubekommen, mit welcher Verve sich Schlagzeuger Jessie Boyle auf seinem Turm aus Quadern ins Zeug legt, wie formidabel Pat Wilde seinen Bass bei „Favela“ zum Einsatz bringt oder wie Gitarrist Christian Anthony und Sänger Mitchel Cave sich bei „Disconnected“ als Duettpartner zueinander gesellen.

Sänger Mitchel Cave mit Mikrofon, Sonnenbrille und Kappe.

Mitchel Cave ist auf der Bühne ständig in Bewegung.

Mitchel Cave, den drei Jahre jüngeren Bruder von Clinton Cave, als Frontmann zu bezeichnen, hieße, ihm bitter Unrecht tun. Der Käppi-Träger mit den dünnen geflochtenen Zöpfchen und der getönten Brille (später wird er nicht nur Brille und Käppi ablegen, sondern auch das Oversized-T-Shirt – Kreissch!) ist ein Ausbund an Energie. Beständig in Bewegung macht er die komplette Bühne zu seinem Terrain. Von der Spitze des Drummerturms bis ganz nach vorne an den Catwalks, von einer Seite der Bühne zur anderen, auf eine Box springend oder die Nähe seiner „Saitenspieler“ suchend.

Gegen die brachiale Musik kommt seine Stimme mitunter nicht an. Dass dem auch die Verständlichkeit der Texte zum Opfer fällt, stört höchstens No-Angels. Alle anderen wissen, um was es da geht: um Sex, Drogen und den Spaß, den es ohne Risiko nicht gibt, um den Teufel, der sich in Fäustchen lacht, um Liebe und Tod und das Leid, das aus einer angeknacksten Psyche resultiert.

Auf der „F***ing-Skala“ – der Häufigkeit, mit der das rüde Wort zum Einsatz kommt – belegt Mitchel Cave einen Platz ganz oben. „Are you in Church?“, fragt er süffisant vor dem gleichnamigen Stück. Nachdem er festgestellt hat, dass heute nicht nur ein „f***ing Sunday“ ist, sondern sogar ein „f***ing Easter Sunday“. Aber auch eine Aufforderung zum kollektiven Kuscheln ist bei ihm drin oder das Geständnis, dass ihm jetzt gerade, auf dem Catwalk kniend, die Tränen kommen.

Spektakulär: die Videoeinspieler. Suggestive Bilderwelten zwischen Dystopie und Paradies: eine bunter Blumenwiese und eine abgef***te Junkiebude, die Oberfläche eines kargen verwüsteten Planeten, eine blühende unterseeische Landschaft. Geschwindigkeitsrausch im Sportwagen, ein Strom von Pillen und Kapseln, der sich wie aus einem Füllhorn des Bösen ergießt. Eine Kirche gibt es auch, über die grelle Gewitterblitze zucken. Die Kirche ist aus Holz.