Gerade ist Barbara Kingsolvers „Demon Copperhead“ auf Platz 7 der „Spiegel“-Bestsellerliste geklettert. Vor ihrer Lesung auf der lit.Cologne sprach sie über Armut und Opioidkrise in den Appalachen, und die politische Zukunft der USA.
Barbara Kingsolver vor lit.Cologne„ Soll Trump doch irgendwo Golf spielen gehen“
Wie entstand die Idee, Dickens' „David Copperfield“ als Blaupause für Ihr Buch zu verwenden?
Ich wusste, dass ich einen großen Roman über die Appalachen schreiben wollte, Ausgangspunkt sollte die Opioid-Epidemie sein. Zwei Jahre lang habe ich versucht, herauszufinden, wie ich die Geschichte erzählen will. Durch Zufall fuhr ich nach London und entdeckte, dass man im Bleak House, dem Haus von Charles Dickens, Zimmer mieten kann. Dort gibt es auch den Raum, in dem er „David Copperfield“ geschrieben hat, dort hatte ich diese Eingebung: Armut, Waisen, die Geschichte erzählt aus der Perspektive eines Kindes. Ich hatte das Gefühl, als würde Dickens mir den Staffelstab weiterreichen.
Schlechte Krankenversicherung
Sie kannten das Buch natürlich.
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Aber es war lange her, dass ich es gelesen hatte. Auf dem Rückflug bin ich dann Kapitel für Kapitel durchgegangen und stellte fest: Das könnte klappen. Zu Hause habe ich mir dann recht schnell eine Tabelle angelegt. Aber danach habe ich drei Jahre gebraucht, bis das Buch fertig war.
Sie beschreiben die medizinische Situation in den Staaten sehr plastisch. Versicherungen zahlen oft nur für Schmerzmittel, aber nicht für Behandlungen. Wie kommt es, dass es in den USA kaum oder nur unzureichende Krankenversicherung gibt?
Ja, das ist absurd. Einige Übersetzer haben auch extra bei mir nachgefragt, ob das wirklich alles stimme. Aber es ist genau so. Ärzte, die für vielleicht 1000 Patienten zuständig sind. Oder Gegenden wie die Appalachen, in die nur immer mal wieder ein Arzt kommt, der die Menschen gratis behandelt. Die Menschen stehen stundenlang an, um sich vielleicht einen Zahn ziehen zu lassen, der seit zehn Jahren wehtut. Das ist barbarisch!
Erinnerung an Judy Garland
Demon wird nach einer Verletzung von einem Arzt so medikamentiert, dass die Schmerzen betäubt sind, er aber fit genug ist, weiter Baseball zu spielen. Das erinnert mich an Judy Garland, die schon in den 30er Jahren als Teenager von den Studio Aufputsch– und Schlafmittel bekam, um morgens drehen und abends schlafen zu können.
Genau. Und während Profisportler Drogentests machen müssen, passiert das beim Highschool-Sport nicht. Und diese Spiele sind vor Ort so wichtig wie eine Weltmeisterschaft. Dadurch ist der Druck so groß, dass die Jungs spielen, auch wenn sie verletzt sind. Pharmafirmen haben sich diese Region bewusst ausgesucht, weil sie wussten, dass die Menschen sich nur einmal im Jahr für einen Arztbesuch freinehmen können und dieser ihnen dann zumindest helfen will. Und den Ärzten wurde nicht gesagt, dass Oxycontin sehr schnell abhängig macht.
Sport-Stipendien oder auch die Armee sind oft die einzigen Möglichkeiten, um seine Situation zu verbessern. Was ist aus dem amerikanischen Traum geworden, davon vom Tellerwäscher zum Millionär werden zu können?
Ein vergifteter Mythos
Das ist ein vergifteter Mythos. Wir sprechen in den USA zwar über strukturellen Rassismus, aber nicht über Klassismus, also darüber, wie die Zugehörigkeit beeinflusst, wo du wohnst oder was du arbeitest. Wenn in deiner Familie niemand auf der Universität war, hat es niemand auf dem Radar, dass dies eine Möglichkeit für die Kinder sein kann. Und aufgrund des amerikanischen Traums denken die Leute, man müsse sich nur genug anstrengen. Und das ist mit Scham behaftet, weshalb niemand andere um Hilfe bittet oder sich um Unterstützung durch den Staat kümmert.
Haben Sie die Hoffnung für die USA, was die kommenden Wahlen betrifft?
Hoffnung ist eine Verpflichtung. Sie aufzugeben, ist wie seine Kinder am Straßenrand stehenzulassen. Die Chancen, dass Trump gewinnt, sind sehr hoch, aber das wäre ein Desaster für die Vereinigten Staaten, wie wir sie kennen. Aber ich glaube an meine Mitmenschen; dass, genauso wie Köln wieder aufgebaut worden ist, nachdem es durch Bomben zerstört war, auch mein Land wieder neu aufgebaut werden könnte – gutherziger, nachhaltiger und weniger von großen Konzernen gelenkt.
Und Biden?
Wenn Biden wiedergewählt werden sollte, wird das besser sein, zum Beispiel für die Umwelt. Denn in der Trump-Zeit wurde jede Regulierung in diesem Bereich umgehend außer Kraft gesetzt. Soll er doch irgendwo Golf spielen gehen und niemals zurückkommen.
Der Stolz der Appalachen
Uns hier ist nach wie vor unverständlich, dass Trump überhaupt gewählt wurde.
Auch deshalb habe ich mein Buch geschrieben: um zu zeigen, wo die Wut der Menschen auf dem Land herkommt – wo die Menschen etwa vier Stunden fahren müssen, um einen Herzspezialisten zu finden. Es gibt keinen öffentlichen Nah- oder Fernverkehr. Und im Fernsehen bekommt man nur das Leben der Reichen und Schönen gezeigt. Ich wollte versuchen, diese Kluft zwischen den Menschen auf dem Land und denen in der Stadt zu überwinden.
Wie waren die Reaktionen in den Appalachen auf den Roman?
Die Leute sind so stolz, vor allem als er den Pulitzer-Preis gewonnen hat – als erster Buch einer Autorin von dort. Von meinem Briefträger, an der Kasse im Supermarkt; überall war die Reaktion: Wir haben gewonnen!