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Neuer Roman von Barbara KingsolverSchmerzmittel als Droge der Armen in „Demon Copperhead“

Lesezeit 4 Minuten
Barbara Kingsolver

US-Autorin Barbara Kingsolver

Pulitzerpreis-Trägerin Barbara Kingsolver erzählt in „Demon Copperhead“ auf den Spuren von Charles Dickens von den heutigen Problemen im ländlichen Amerika.

„Man sagt, keiner macht dich so fertig wie du selbst. Aber wir kriegen reichlich Hilfe“, muss der junge Demon feststellen. Die Begleitumstände seines Starts ins Leben könnten nicht schlechter sein: Seine drogenabhängige Mutter lebt allein in einem Trailer, der Vater ist vor der Geburt gestorben, für eine Heirat war keine Zeit mehr.

Doch in den Appalachen ist das beileibe nicht ungewöhnlich, eine Region, die sich über mehrere US-Bundesstaaten streckt und die geprägt ist von einer armen Landbevölkerung.

Hier ist auch die Autorin Barbara Kingsolver aufgewachsen, mit ihrem gerade auf Deutsch erschienenen Roman „Demon Copperhead“ wollte sie ihrer Heimat ein Denkmal setzen – und erhielt im letzten Jahr dafür den Pulitzer-Preis.

Oxycotin, Gottes Geschenk an den Arbeitslosen.
Demon Copperhead

Der Titel lässt selbstredend an Dickens denken, an „David Copperfield“ und tatsächlich nimmt Kingsolver den Klassiker als Blaupause, greift Figuren und Plot auf und beamt die Geschichte vom viktorianischen England in die jüngere Vergangenheit der USA um die Jahrtausendwende.

Dreh- und Angelpunkt ist die um sich greifende Opioidsucht, ausgelöst durch ein Gesundheitssystem, in dem sich Heilung nur die mit Geld leisten können. Für alle anderen, deren Versicherung nur Schmerzmittel abdeckt, heißt es: den Schmerz betäuben oder durch die regelmäßige Einnahme von Tabletten möglichst gar nicht erst an die Oberfläche kommen lassen.

„Oxycotin, Gottes Geschenk an den Arbeitslosen. Für die gebeugte Frau mit den kaputten Knien, die bei Dollar General Doppelschichten schiebt, weil sie allein für einen ADHS-Enkel sorgen muss. Für jeden Footballspieler, bei dem dies und das gerissen ist und dem die halbe Welt mit der Frage im Nacken sitzt, wann er denn nun wieder antreten kann. Es war unsere Rettung. Man hat am Baum gerüttelt, und ja, wir haben den Apfel gegessen.“ Ein Fest für die Pharma-Mafia, deren Vertreter gezielt die armen Regionen durchstreifen.

Loser zu sein ist wie ein Sturz von einer Klippe: Es gibt kein Zurück.
Demon Copperhead

Denn – und damit verrät man nicht zu viel – auch Demon erfährt die Abhängigkeit am eigenen Leibe, und das an einem Punkt in seinem Leben, wo er eigentlich auf der Sonnenseite angekommen schien. Zuvor hatte er einen prügelnden Stiefvater und den Tod der Mutter verkraften müssen, war dank der alles andere als geschmeidig mahlenden Mühlen des Fürsorgesystems von einer Pflegefamilie in die nächste geschleust worden.

Man beutete ihn aus, misshandelte ihn, raubte ihm sein weniges Gespartes. „Loser zu sein ist wie ein Sturz von einer Klippe: Es gibt kein Zurück.“

Und wie auch David Copperfield findet er seine wohlhabende Großmutter, die ihn zwar nicht in ihrem Haus aufnehmen will, ihn aber bei einem Football-Coach und dessen Tochter unterbringt. „Es fiel mir schwer, mich daran zu gewöhnen, dass ich so gut versorgt war.“

Hier entdeckt der Junge, dass er nicht nur ein begabter Comic-Zeichner ist, sondern auch ein Talent auf dem Spielfeld ist. Mit der 88 auf dem Rücken wird er kurzzeitig zum Star der Schulmannschaft – bis ihn ein Gegner so derb foult, dass Knie und Karriere hinüber scheinen. Aus Angst vor einer Operation und dem endgültigen Aus als Footballer beginnt er Tabletten zu schlucken. Die Abwärtsspirale wird weiter angetrieben, als er die vermeintliche Liebe seines Lebens trifft ...

Wir haben Stoff genug, um mehr als nur ein einziges Leben an die Wand zu fahren.
Demon Copperhead

Auf mehr als 800 Seiten malt Barbara Kingsolver ein düsteres Panorama, das sie hin und wieder mit Sonnenstrahlen erhellt und einem derben Humor würzt. „Wir haben Stoff genug, um mehr als nur ein einziges Leben an die Wand zu fahren“, lässt sie Demon früh erkennen.

„Zahllose Cousinen und Cousins wimmelten wie ein Rudel halbwilder Tiere mit Verköstigungsprivilegien durchs Haus“, so die Beschreibung des Lebens der Nachbarn, die sich liebevoll um Demon und seine Mutter kümmern.

Über deren Tochter heißt es: „Sie war eine Legende: June Peggot, die alle Rekorde gebrochen hatte, weil sie nicht schwanger geworden, sondern aufs College gegangen war.“

Einen Knastaufenthalt würden einem die meisten Familien verzeihen, aber nicht, dass man aus Lee County wegzog.
Demon Copperhead

Auch wenn der Ort „die Welthauptstadt der Lose-Lose-Situation“ ist: „Einen Knastaufenthalt würden einem die meisten Familien verzeihen, aber nicht, dass man aus Lee County wegzog.“

Bleib nah bei deinen Wurzeln, so die Überzeugung aller, die grundiert ist von einem überbordenden Misstrauen den Städtern gegenüber. Und es ist diese Dichotomie zwischen Stadt und Land, die bis heute über Bildung, Wohlstand und gesellschaftliche Stellung in den USA entscheidet und die sich in der politischen Zerrissenheit des Landes spiegelt.

„Seit meiner Geburt hatte ich mit einem Fuß im Scheißhaufen der Pflegeunterbringung gestanden.
Demon Copperhead

Kingsolver, die sich selber lange Zeit für ihre in ihrer Aussprache hörbare Herkunft schämte, erzählt in einem Stil, der ohne Zögern Derbheiten neben Poetisches und tiefe Einsichten stellt: „Für eine Weile waren wir zusammen traurig. Ich werde nie vergessen, wie sich das anfühlte. Als wäre ich nicht mehr hungrig.“

Doch einem Satz wie „Seit meiner Geburt hatte ich mit einem Fuß im Scheißhaufen der Pflegeunterbringung gestanden“ muss man nichts hinzufügen.

Barbara Kingsolver: Demon Copperhead. Roman, deutsch von Dirk van Gunsteren. dtv, 864 S., 26 Euro. Lesung auf der lit.Cologne: 12. März, 18 Uhr, WDR-Funkhaus, Bernhard Robben moderiert, Robert Stadlober liest den deutschen Text.