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„Verantwortung weiterzumachen“Annie Ernaux bekommt Nobelpreis für Literarische Werke

Lesezeit 3 Minuten

Die Schriftstellerin Annie Ernaux erhält den Nobelpreis für Literatur.

Paris – Seit über vier Jahrzehnten schreibt Annie Ernaux Bücher - Bücher über sich und ihre Herkunft. Dabei blickt sie nicht nur radikal auf ihr eigenes Leben, sondern reflektiert schnörkellos die Zeit und Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurde. Die 82-jährige Schriftstellerin, die 2022 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, bezeichnet sich als Ethnologin ihrer selbst.

Verlag plant Neuauflagen

Der Suhrkamp Verlag rechnet mit einem Ansturm auf die Bücher von Annie Ernaux. Es seien Neuauflagen geplant.

Zudem erscheint in diesen Tagen ein Ernaux-Band neu in deutscher Übersetzung. In „Das andere Mädchen“ schreibt sie einen Brief an ihre Schwester, die sie nie kennenlernen konnte. Als Taschenbuch kommt zudem „Das Ereignis“. (dpa)

Annie Ernaux sieht in ihrer Auszeichnung eine Aufforderung, ihren Kampf gegen Ungerechtigkeiten in der Welt fortzuführen. „Den Nobelpreis zu bekommen, ist für mich die Verantwortung weiterzumachen“, sagte Ernaux am Donnerstag in Paris. „Der Nobelpreis ist noch nicht ganz real für mich, aber es ist richtig, dass ich eine neue Verantwortung verspüre.“ Es gehe darum, weiter gegen alle möglichen Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Auch verspüre sie die Verantwortung, offen zu sein für den Lauf der Welt. Ihre schriftstellerische Arbeit sei natürlich politisch.

Distanzierter Erzählstil

In Deutschland wird sie von Kritikern als Meisterin des Autofiktionalen gefeiert oder sogar als weiblicher Proust, in Anspielung an ihren berühmten Landsmann Marcel Proust (1871-1922). Ihre Bücher schaffen es regelmäßig auf deutsche Bestsellerlisten. Eines ihrer jüngsten, auch in Deutschland erschienenen Werke trägt den Titel „Das Ereignis“.

Das fast autobiografische Buch handelt von den fast schon grausamen Versuchen der Autorin abzutreiben, in einer Zeit, in der die Abtreibung noch als unmoralisch und kriminell betrachtet wurde. Verfilmt wurde die Geschichte von Audrey Diwan, die dafür im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig erhielt.

Geschichten gehen über Persönliches hinaus

Die über zwanzig Bücher der Schriftstellerin lesen sich wie ein Selbsterkundungsprojekt. Wie sie selbst sagt, versucht sie ihre persönlichen Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis zu finden, denn für sie ist ein „Ich“ nicht ohne die anderen und ohne Geschichte denkbar. Und so gehen ihre Geschichten über ihre persönlichen Erlebnisse hinaus; sie betten sich ein in kollektive Erfahrungen, die durch gesellschaftliche Zwänge und Ereignisse die „Ichwerdung“ beschränken. Die Schwedische Akademie zeichnet sie „für den Mut und die klinische Schärfe“ aus, „mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt“.

Ernaux wurde 1940 in Lillebonne in der Normandie geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Vater verdiente den Lebensunterhalt als einfacher Arbeiter. Ihre Kindheit war geprägt vom frühen Tod ihrer älteren Schwester. Nach dem Studium der Neueren Literatur wurde sie Gymnasiallehrerin. 1974 erschien ihr erster Roman „Les armoires vides“ („Die leeren Schränke“). Als sie sich 1980 scheiden ließ, war sie Mutter von zwei Kindern. 1984 erschien „La Place“ („Der Platz“). Der Roman, für den sie den renommierten Renaudot-Preis erhielt, handelt von ihrem Vater und ihrem eigenen sozialen Aufstieg. In „Eine Frau“ beschwört sie die Erinnerungen an ihre Mutter herauf, in „Passion simple“ ihre Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann.

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Zu ihren erfolgreichsten Büchern gehört „Les années“, „Die Jahre“, aus dem Jahr 2008. Das Werk ist eine Rückschau auf 60 Jahre ihres Lebens, ein Blick auf eine Frau, die sich verändert – zusammen mit der Welt.

Ihr Erzählstil ist neutral, distanziert. Sie selbst bezeichnet ihn als objektiven Stil, der die erzählten Tatsachen weder auf- noch abwertet. Der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck sagte, gegenüber der dpa, es handle sich um einen „Festtag für die Literatur“. (dpa)