Kunst in allen GassenVor der 59. Biennale herrscht in Venedig rege Betriebsamkeit
Venedig – Die Tetrarchen-Skulpturen auf dem Markusplatz sind etwas ins Abseits geraten. Die kleine spätantike Gruppe der vier Herrscher auf Augenhöhe verschwindet fast hinter einem Bauzaun. Der Markusdom soll besser vor Hochwasser geschützt werden, daher ist eine Baustelle auf Venedigs beliebtester Piazza. Man mag es als Zeichen der Zeit lesen, dass Kunst, die gute, gemeinschaftliche Politik abbildet, etwas zurücktreten muss.
Die Biennale steht in der Lagunenstadt kurz vor dem Ansturm. Die Stadt putzt sich nach der Corona-Pause heraus für internationalen Kunstliebhaber und andere Besucher. An den ersten sonnensatten Frühlingstagen Ende März atmet Venedig auf: Der Spritz schmeckt abends draußen auf den Plätzen, die Sonnenuntergangs-Selfies vom Rialto bekommen Frühlingspastelltöne, die fröhlichen „Dottore! Dottore!“-Gesänge für die Studienabsolventen wehen durchs Univiertel.
Rappelnd Köfferchen und Kunsttransporte
Unablässlich rappeln Rollköfferchen durch die Gassen. Zwischen Gondeln und Wasserbussen schaukeln die Lastkähne mit den typischen Kunsttransport-Holzkisten.
Krisen? Welche Krisen? Venedig, die unmöglichste aller Städte, scheint wie eh und je von der Wirklichkeit entrückt. „Die Milch, aus der die Träume sind“ ist das aus einem surrealistischen Song entliehene Motto, was zu Venedig passt aber wenig zur ganz aktuellen Situation. Die Länder-Pavillons und Schauen sind sorgfältig kuratiert und längst fertig, wenn auch der Russische Pavillon nach einer Absage im Februar leer bleibt.
Im Ukraine-Pavillon stellt Pavlo Markov eine aus aktuellem Anlass schon vorab viel beachtete Skulptur aus Trichtern aus. Das gedruckte Programm werde erst in letzter Minute fertig, da es immer wieder aktuelle Ergänzungen gebe, heißt es im Biennale-Betriebsbüro.
Kunst in allen Gassen
Das Delta zwischen Musealität und Aktualität öffnet sich bei jeder Biennale, dieses Mal fühlt es sich besonders groß an. Kunstschaffende und Ausstellungsmacher wollen es füllen und in den kommenden Monaten auch spontan reagieren.
Biennale bedeutet in Venedig Kunst in allen Gassen, ob als Teil des offiziellen Programms oder unabhängig. Vor dem Palazzo Balbi am Canale Grande steht als Installation des italienische Künstlers Angelo Accardi eine knallrote „FUCK“-Skulptur, die Robert Indianas berühmte „LOVE“ Emblem zitiert.
Der Palazzo Grassi stellt unter dem Titel „open-end“ Werke der Südafrikanerin Marlene Dumas aus. Die Schau präsentiert großformatige Menschenbilder mit entwaffnender Körperlichkeit und psychologischem Tiefsinn. Am Eröffnungstag kamen vor allem Venezianer, die die Ruhe vor dem Ansturm nutzten.
Hochpolitische Beobachterin
Die Ausstellungen der 59. Biennale öffnen am 23. April in den Giardini und im Arsenale. Den Deutschen Pavillon kuratiert Yilmaz Dziewior, Direktor des Museum Ludwig. Er hat die Berliner Künstlerin Maria Eichhorn mit dem deutschen Beitrag beauftragt. Sie gilt als hochpolitische Beobachterin. Und setzt wiederholt Statements gegen den Totalitarismus.
Der Schwester-Ausstellungsraum an der Punta Dogana zeigt seit Mai 2021 Installationen des US-Amerikaners Bruce Nauman. Im Dogenpalast hat der deutsche Maler Anselm Kiefer einen Saal mit einem beeindruckenden, düsteren Bilderzyklus zur Stadtgeschichte ausgekleidet.
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In der Edel-Meile zwischen Markusplatz und Akademiebrücke bieten die zwischen den Designer-Modeläden gelegenen Kunsthandlungen Originale von Jeff Koons oder Robert Indiana zum Kauf an. Biennale ist auch Business. Für die Mozart-Multimedia Installation „Archèus“ ist der Eintritt frei, allerdings ist sie im Fort Marghera auf dem Festland eingerichtet, nicht gerade auf der Besucher-Rennstrecke.
Da liegen die klassischen Sehenswürdigkeiten der Stadt, die allesamt auch einmal zeitgenössische Kunst waren. Wer eine Skulptur zum Thema Herrschaft und Teamarbeit sucht, findet sie wie seit Jahrhunderten an einer Ecke des Markusdoms halb hinter dem Bauzaun. Für Selfies stehen die Tetrarchen bereit.