Köln – Als das Hohe Gericht am Mittwoch den Saal im Bundesgerichtshof (BGH) betritt, sind alle Augen auf den blonden Mann am Tisch der Nebenklage gerichtet. Dort sitzt Marvin Pagel, der Bruder von Kevin, der 2009 beim Einsturz des Stadtarchivs am Waidmarkt in die Tiefe gerissen und getötet wurde.
Marvin Pagel war damals sechs Jahre alt, und genau wie im Juli bei der ersten Anhörung ist er auch dieses Mal nach Karlsruhe gekommen. Er sagt, er will hier seinen Bruder vertreten und wissen, was genau damals wirklich passiert sei. Es gehe nicht um Sühne oder Rache, sondern darum zu erfahren, wie und warum sein Bruder sterben musste.
Gemischte Gefühle beim Bruder des Getöteten
Der Vorsitzende Richter begründet monoton die Entscheidung des Senates das Kölner Urteil aufzuheben. „Dass er mir dabei immer wieder in die Augen geschaut hat, hat mir gut getan“, sagt Marvin später. Das Urteil hat bei ihm laut eigener Aussage gemischte Gefühle ausgelöst: Einerseits ist er froh, dass jetzt weiter aufgeklärt wird. Andererseits wird der Prozess für ihn und seinen Vater auch nochmal alte Wunden aufreißen. Für ihn geht es jetzt auch wieder von vorne los. Es bedeute es für seinen Mandanten natürlich nun eine Tortur, wenn das ganze Verfahren von neuem beginne, ergänzt Pagels Anwalt Bernhard Scholz.
Das sei einerseits gut, damit aufgeklärt wird, andererseits sagt Pagel „ist das natürlich auch belastend für mich und meinen Vater, so lange der Prozess nicht richtig zu Ende ist, kannst du das einfach nicht so gut abschließen.
Der BGH hat das komplette Urteil und alle Feststellungen aufgehoben. Das heißt es wird neue Zeugen, neue Sachverständige und ein neues Urteil geben. Mit offenem Ausgang sagt, Bernhard Scholz der Anwalt von Nebenkläger Marvin Pagel. „Es ist theoretisch möglich, dass auch die neue Strafkammer am Landgericht Köln zu dem gleichen Ergebnis kommen wird“, so der Anwalt. Über einen neuen Termin für die Neuauflage müssen sich die Prozessbeteiligten noch abstimmen.
Arbeiten besser überprüfen
Vereinfacht gesagt sind die Bundesrichter der Meinung, dass das Kölner Landgericht die vielen Sorgfaltspflichtverletzungen und Fehler der zwei angeklagten Bauleiter nicht ausreichend abgewogen und eingeordnet hat. Dem Kölner Landgericht sei aus dem Blick geraten, dass die Angeklagten in der Baustelle eine Aufsichts- und Informationspflicht gegenüber Baggerfahrer und Polier hatten. Die beiden hätten vereinfacht gesagt, die Arbeiten von Baggerfahrer und Polier besser und genauer überwachen und vor allem überprüfen müssen.
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Beiden Verantwortlichen sei klar gewesen, wie gefährlich die damals beim Aushub der Grube aufgetauchten Probleme und Hindernisse für die Baustelle gewesen seien. Unterm Strich muss in dem neuen Prozess muss nun geklärt werden, ob das Kölner Stadtarchiv ohne diese Sorgfaltspflichtverletzungen auch eingestürzt wäre und zwei Menschen mit in den Tod gerissen hätte
„Vor dem Tod der beiden Menschen verblasst jedweder Schaden“, sagte BGH-Richter Ulrich Franke. Köln hat inzwischen ein neues Stadtarchiv. Anfang September wurde es eröffnet. Drama und Trauma um das alte Archiv bleiben. Der neue Prozess wird die Stadt bald wieder beschäftigen.
„Gravierende Baufehler“ beim U-Bahn-Bau führten zum Einsturz des Stadtarchivs
2018 begann der erste Strafprozess zur Aufarbeitung der Katastrophe am Waidmarkt nach jahrelangen Vorarbeiten. Die 10. Große Strafkammer am Kölner Landgericht verhandelte 48 Mal und stellte am 12. Oktober einen „gravierenden Baufehler“ und „eine Verkettung unglücklicher Umstände“ als Einsturzursache fest. Zwei Bauleiter und die Chefin der Bauüberwachung wurden freigesprochen, ein Bauüberwacher der KVB zu acht Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Jedoch waren der Polier und ein Baggerfahrer, die wohl den größten Anteil an dem Baufehler hatten, nicht mehr Teil des Strafverfahrens, weil sie schwer erkrankten. Ein weiterer angeklagter Polier war kurz vor Prozessbeginn gestorben. Das Archiv war am 3. März 2009 in die Baugrube der Nord-Süd-U-Bahn gestürzt, weil der Untergrund nachgab. Als Ursache gilt ein Loch in der Baugrubenwand, durch das Wasser, Sand und Kies in die Baugrube strömten und so dem Archiv dem Boden entzogen.
In einem zweiten Strafprozess wurde 2018 ein Oberbauleiter der Baufirmen wegen fahrlässiger Tötung und Baugefährdung angeklagt. Schuldig, urteilte die 20. Große Strafkammer. Der Mann habe seine Prüfpflichten nicht erfüllt. Sämtliche Urteile ergingen erst kurz vor Ende der Verjährungsfrist. Diese beträgt fünf Jahre und verlängerte sich nach rechtzeitiger Benennung der Beschuldigten durch die Staatsanwaltschaft um weitere fünf Jahre. Ursprünglich hatte der Kreis der Beschuldigten mehr als 100 Personen umfasst.
1,3 Milliarden Euro beträgt nach Schätzungen der Stadt der Schaden, den der Einsturz verursacht hat. Dazu zählen die Schäden an den Archivgütern (627 Millionen Euro), ihre Bergung (28 Millionen), Beweissicherung und Gerichtskosten (80 bis 90 Millionen) sowie der Neubau des Historischen Archivs am Eifelwall, der im September eröffnet wurde (83 Millionen). In einem Zivilprozess wollte sich die Stadt diese Kosten von den Baufirmen zurückholen. Am Ende einigte man sich im Jahr 2020 auf einen Vergleich. Die Firmen zahlten 600 Millionen Euro für die entstandenen Schäden und verpflichteten sich, das U-Bahnbauwerk an der Einsturzstelle auf ihre Kosten zu sanieren und fertig zu bauen. Zudem richten sie dort eine Gedenkstätte ein. Die Nord-Süd-U-Bahn wird frühestens 2028 am Waidmarkt fahren. (fu)