„Spurensuche“ – Hilde Domins FluchtVom Agnesviertel in die Dominikanische Republik
- In unserer Serie "Spurensuche"stellen wir Personen und ihre Zeit in Köln vor
- Historiker Anselm Weyer hat sich mit der Lyrikerin Hilde Domin beschäftigt, die im Agnesviertel aufwuchs
Köln – In unserer Serie „Spurensuche“ stellen wir Personen und ihre Kölner Zeit vor. Historiker Anselm Weyer hat sich mit Hilde Domin beschäftigt. Ihre Kindheit verbrachte sie im Agnesviertel, später zogen die Eltern dann nach Braunsfeld.
„Köln spielt für mich eine große Rolle, weil es die Stadt meiner Kindheit ist, weil ich dort eine glückliche Kindheit verlebt habe und auch, weil ich die Stadt verlassen musste“, schreibt Hilde Domin, eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen. „In meinem Elternhaus“, so berichtet sie über ihre Kindheit im Agnesviertel, „habe ich das Urvertrauen bekommen, das man als Kind bekommt oder nie. Und außerdem eine durch und durch demokratische Erziehung.“
Behütet wuchs Hilde Löwenstein in der Riehler Straße 23 auf. „Wir wohnten im 2. Stock, und mein Bruder und ich wurden ins Erdgeschoss oder ins Hochparterre getragen, wenn Fliegeralarm war, während des Ersten Weltkriegs“, erinnert sie sich. „Auf dem 3. Stock wohnten Leute, die ihre Söhne zur Strafe zum Fenster hinaushielten, einfach über den Hof: zur Abschreckung.“
Löwensteins waren keine Helikoptereltern
Ganz anders der Erziehungsstil bei der Familie Löwenstein. Nachdem die Tochter zunächst Privatunterricht erhalten hatte, besuchte sie das Merlo-Mevissen-Lyzeum in der Gilbachstraße 20. Die Mutter, berichtet Hilde Domin, stieg morgens in die Straßenbahnlinie 16, „monatelang, als ich begann auf dem Fahrrad zur Schule zu fahren. Sie überwachte die Expedition von der Straßenbahn aus und schätzte die Risiken ein.“
Die Löwensteins waren aber keine Helikoptereltern. Hilde und ihr jüngerer Bruder mussten fast nichts und durften viel. „Einmal habe ich als Schülerin in der Lengfeld’schen Buchhandlung ein Buch von James Joyce kaufen wollen“, erzählt Domin von einem Besuch des damals noch in der Zeppelinstraße 9 befindlichen Ladens. „Das muss die Buchhändlerin wohl stutzig gemacht haben. Jedenfalls rief sie bei meinen Eltern an, um zu fragen, ob das in Ordnung sei, weil sie der Ansicht war, diese Lektüre sei doch wohl nichts für Kinder.“
Wegen einer Rede beinahe kein Zeugnis bekommen
Hilde Domins großes Vorbild war ihr Vater, Rechtsanwalt Dr. Eugen Löwenstein, der sein Büro am Kaiser-Wilhelm-Ring 3 hatte. Wenn er zu Fuß über den Hansaring heimkam, musste immer die Mutter nebenher gehen und ihm die Namen der Passanten zuflüstern, denn, so schreibt sie, „aus der Gegenrichtung kamen die Richter am Oberlandesgericht vom Reichenspergerplatz, in dessen Nähe wir wohnten, und Vater erkannte sie meist nicht oder zu spät.“ Mit ihrem Vater ging Domin nicht nur ins Wallraf-Richartz-Museum, in den Kunstverein oder zum Schwimmen in eine der „kleinen hölzernen weiß getünchten Badeanstalten auf dem Rhein“.
Wegen ihres Vaters studierte Domin zunächst Jura. Dabei wäre ihr beinahe ihr Zeugnis verweigert worden, weil sie auf der Abiturfeier 1929 des von ihr besuchten Merlo-Mevissen-Lyzeums in der Gilbachstraße 20 in der Robe ihres Vaters eine äußerst kritische Rede auf ihre Schule gehalten hatte.
Gerichtsverhandlungen während der Kindheit
Vor allem aber begleitete die Tochter Eugen Löwenstein ins Gericht, wobei ihr vor allem ein Prozess in Erinnerung blieb, in dem der Vater einen mutmaßlichen Brandstifters verteidigte: „Dieser Prozess erstreckte sich über einen großen Teil meiner Kindheit. Ich schwänzte die Schule, um den Gerichtsverhandlungen beizuwohnen, und bestärkte meinen Vater darin, diesen lange schon zahlungsunfähigen Mandanten durch alle Instanzen zu verteidigen. Ich sehe den Vater noch, wie er am Abend nach einer Gerichtsverhandlung im Bett lag, halb krank vor Aufregung, weil er Drohbriefe erhielt, und wie meine Mutter dafür war, es aufzugeben – aber er konnte mich einfach nicht enttäuschen, und hätte es unsere gesamte Existenz gekostet. Dieser Mann, der dann nach fünf Jahren des Hin und Her auf ein Gnadengesuch meines Vaters von Hindenburg begnadigt wurde, war einer der ersten, die, nach 1933, aufhörten, meinen Vater, einen jüdischen Rechtsanwalt, auf der Straße zu grüßen.“
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Hilde Domin hatte zu dem Zeitpunkt Köln bereits zugunsten eines Auslandsstudiums in Rom verlassen, das sich schon bald als Exil herausstellte. So hat sie auch die neue Wohnung ihrer Eltern nie kennengelernt. „Sie zogen in eine kleinere, modernere Wohnung nach Braunsfeld, von der ich nur den Rohbau sah und zu der ich auf einer Leiter hinaufstieg, bevor ich Deutschland verließ“, beschreibt sie ihren einzigen Besuch im zweiten Stock des Maarwegs 17. „Ich bekam ein Zimmer dort, natürlich. Meine Mutter schickte mir die Stoffmuster für meine Couch und die Vorhänge, und auch die Tapete. In das Zimmer, das ich nie gesehen habe, stellte sie immer frische Blumen, schrieb sie.“
Flucht in die Dominikanische Republik
Dann aber wurden die Repressionen so drückend, dass auch die Eltern aus Deutschland flohen. „An ihrem Silbernen Hochzeitstag machten meine Eltern einen Ausflug an die belgische Grenze, mit der Straßenbahn. Dann ein kleiner Spaziergang, und sie waren draußen. Das war kurz nachdem die jüdischen Rechtsanwälte auf Lastwagen in schimpflicher Weise durch Köln gefahren wurden, wovor mein Vater bewahrt geblieben war, man hatte ihn gewarnt.“
Wer weiß, was aus Hilde Löwenstein geworden wäre, hätte sie friedlich in Braunsfeld wohnen dürfen. So aber floh sie, mittlerweile verheiratet mit dem Gelehrten Erwin Walter Palm, bis in die Dominikanische Republik vor den Nationalsozialisten. Hier erreichte sie nacheinander die Todesnachricht ihrer im Exil verstorbenen Eltern. Verarbeiten konnte Hilde Palm diesen Verlust nur, indem sie anfing, Gedichte zu schreiben. Ihr Pseudonym Hilde Domin ist eine Anspielung auf die Insel, die ihr Schutz vor der Verfolgung gewährt hatte.
1954 zum ersten Mal nach 22 Jahren wieder in Köln
Als ihr Mann nach dem Krieg eine Professur in Heidelberg erhielt, zog Hilde Domin zurück nach Deutschland, um auch Köln wieder zu besuchen. Sie war mehr als überrascht, dass gerade ihr Elternhaus von den Bomben verschont geblieben war, so dass sie „an der Haustür mit den fremden Namen klingelte, auf dem gleichen Klingelknopf, die alte verschnörkelte Klinke drückte und die gleiche Marmortreppe zum zweiten Stock stieg, an den bekannten Briefkästen vorbei: Als ich 1954 zum ersten Mal nach zweiundzwanzig Jahren wieder nach Köln kam.“
Und nicht nur das. „Am Haus meiner Kindheit blühte/ im Februar/ der Mandelbaum“, freut sich Domin in einem Gedicht. Später aber besuchte Hilde Domin einmal Heinrich Böll, der zu der Zeit gleich um die Ecke wohnte, und als sie sich gerade wunderte, dass dieser Auto fahren konnte, „da waren wir schon um die Ecke, und ich vermisste den Mandelbaum am Eingang. ‚Ja, da steht jetzt die Mülltonne‘, sagte er sofort, denn er hatte den Mandelbaum gekannt.“
Anselm Weyer (42) hat als Literaturwissenschaftler in Köln promoviert. Er bietet seit Jahren Stadtführungen für die AntoniterCity-Tours an.