Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel wirbt mit der Lesung ihrer Memoiren in der Kölner Flora für einen sensibleren Umgang mit unterschiedlichen Positionen.
Angela Merkel in Köln„Wir müssen uns in die Schuhe der anderen hineinversetzen“
Das bürgerlich durchmischte Publikum, das sich durch die Flora schiebt, lässt Rückschlüsse auf eine parteipolitische Prägung nicht zu. Anzug und Blazer sieht man kaum, viele Gäste kommen im Pullover, einige auch im Hoodie. Ein gut gelauntes Stimmengewirr erfüllt die Luft, während an Bar und Garderobe die Schlangen deutlich länger sind als am Büchertisch – und das, obwohl ein Schild verkündet: „Die Bücher sind von der Autorin vorsigniert.“ Eintausend Bücher hat das Team der Buchhandlung Thalia mitgebracht. Wie viele im Laufe des Abends verkauft werden, soll ein Geschäftsgeheimnis bleiben. „Willst du noch eins kaufen?“, fragt eine Frau ihren Begleiter. „Nee“, entgegnet er resolut.
Im Fokus des Abends stehen unter dem Titel „Freiheit“ die Memoiren der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Teils liest sie, teils stellt sie sich den Fragen von Moderatorin Bettina Böttinger: „Eine Mischung aus Wasserglas-Lesung und Gesprächsformat“, erklärt Verlegerin Kerstin Gleba. Ihr Haus Kiepenheuer & Witsch hat Merkels Buch herausgebracht, das schon in der ersten Woche über 200.000-mal verkauft wurde und auch international auf großes Interesse stößt.
Merkel in Köln: Zwischen Bescheidenheit und Koketterie
Der Abend sei, so Gleba, die letzte Lesung Merkels in diesem Kalenderjahr in Deutschland und bildet den vorgezogenen Auftakt zum Silberjubiläum der Lit.Cologne, die vom 15. bis 30. März 2025 stattfindet. „Meinen eigentlichen ersten Satz habe ich verworfen“, steigt Böttinger ins Gespräch ein und schildert Szenen aus Sülz, wo Merkel nachmittags zu einer Signierstunde im „Anderen Buchladen“ eintraf, als in dessen Nachbarschaft gerade die Schule endete: „Die Schüler sind ausgeflippt.“ Merkel gibt sich zunächst bescheiden: „Ich wundere mich, dass sie mich noch kennen“, spricht aber später doch selbstbewusst an, dass es am Ende ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft Kinder gab, die noch nie einen Mann in diesem Amt erlebt hatten.
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Mit jener Mischung aus Selbstbewusstsein und anekdotischen Schilderungen über glückliche Fügungen, die sich durch „Freiheit“ zieht, tritt die frühere Kanzlerin auch in der Flora ihrem Publikum entgegen. Mit Blick auf ihre Anfangsjahre als Bundesministerin für Frauen und Jugend kokettiert sie: „Ich war ein interessanter Fall. Ich war jung, ich war eine Frau, ich war aus dem Osten. Aber wir wollen ja nicht so tun – ich hab’s ja dann auch einigermaßen ordentlich gemeistert.“
Ein Plädoyer für mehr Blickwechsel
Einigermaßen ordentlich meistert sie auch die Herausforderung, sich vor dem Hintergrund der aktuellen Politik zu bewegen, ohne sich allzu klar zu positionieren. Am Abend des Tages, da Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Vertrauensfrage gestellt hat, beginnt sie ihre Lesung mit dem Kapitel „Plötzlich Neuwahlen“ – und entlockt den Gästen damit ein Schmunzeln. Ihre Schilderungen der vorgezogenen Bundestagswahl 2005, bei der Gerhard Schröder (SPD) sich bereits als Sieger aufgeführt habe, ohne es letztlich geworden zu sein, kommentiert sie abschließend schlicht: „So viel zum Thema Neuwahlen. Was immer man daraus ableiten kann.“
Es folgen Szenen aus ihrer Kindheit ebenso wie politische Meilensteine, etwa ihre Entscheidungen angesichts der Flüchtlingskrise im September 2015. Auch einen Globus, der im Kanzleramt auf ihrem Schreibtisch gestanden habe, macht sie zum Thema: „Auf einem Globus gibt es keinen herausgehobenen Ort. Jeder Punkt ist gleich weit vom Mittelpunkt der Kugel entfernt“, anders die Gestaltung auf einer Landkarte, bei der willkürlich eine Mitte entschieden werde, was bisweilen zu Unmut führe in Ländern, die dabei am Rand verortet werden. Die Tiefe der Botschaft, die in dieser vermeintlichen Plauderei liegt, wird deutlich, als sie im Verlauf des Abends mahnt: „Ich plädiere dafür, neugierig zu sein auf andere Sichtweisen. Wir müssen uns in die Schuhe der anderen hineinversetzen, sonst werden wir es auf dieser Welt nicht weit schaffen.“
Merkel: empörender Blick auf ostdeutsche Biographien
Auch durch Böttingers Fragen nach Nord Stream 2 und Russlands Präsident Wladimir Putin lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen. „Über seine aggressiven Absichten, Einflusssphären zu definieren, in der Ukraine und in Georgien, habe ich mir keine Illusionen gemacht“, so Merkel. Sie habe versucht, durch Verhandlungen für die Ukraine und Georgien das Beste herauszuholen. Der Verlust persönlicher Gespräche in der Corona-Pandemie habe aber dazu beigetragen, dass Gedanken sich verselbständigt hätten. Mit den Folgen müsse man nun leider umgehen. Und es habe schlicht mehr gute Gründe für als gegen Nord Stream 2 gegeben.
Für eine deutsch-deutsche Abrechnung nutzt sie Böttingers Frage, wie sie sich den Erfolg der AfD gerade in Ostdeutschland erkläre. Es gebe viele Ursachen, darunter aber sicher diese: „Es ist empörend, zu sagen: Das, was du in der DDR erlebt hast, das hilft uns überhaupt nicht, das nützt nichts, das ist einfach Ballast, den wirfst du jetzt mal über Bord und dann fängst du da an, wo alle anderen in der Bundesrepublik auch angefangen haben. Das ist nicht richtig. Wir sind auch deutsche Biographien, die auch etwas einzubringen haben.“
Und nachdem Angela Merkel vom Publikum mit minutenlangem stehendem Applaus verabschiedet wurde, ist auch der Andrang am Büchertisch größer als vor Beginn ihrer Lesung.