Köln – Er habe den Tag „herbeigesehnt und darauf hingelebt“, sagte Rainer Maria Kardinal Woelki, und gleichzeitig habe er ihn „gefürchtet wie nichts anderes“: Es war der 18. März 2021, der Kölner Erzbischof hatte gerade aus den Händen der Strafrechtlers Björn Gercke dessen Gutachten über den Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln erhalten. Wohlgemerkt das zweite Gutachten in der gleichen Angelegenheit – eine frühere Arbeit der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) bleibt bis heute unter Verschluss, eine Entscheidung, durch die Woelki massiv unter Druck geraten war.
Gercke-Gutachten: 75 Pflichtverstöße
Nun der Versuch eines Befreiungsschlages: 75 Mal hatte Gerckes Gutachterteam Pflichtverstöße bei Kölner kirchlichen Amtsträgern gesehen, allein 23 Mal beim verstorbenen ehemaligen Erzbischof Joachim Kardinal Meisner. Woelki reagierte sofort, stellte den Weihbischof und früheren Generalvikar Dominikus Schwaderlapp sowie Offizial Günter Assenmacher, den Leiter der kirchlichen Gerichtsbehörde, von ihren Aufgaben frei. Ein zweiter Weihbischof, Ansgar Puff, bat von sich aus um Beurlaubung. Schwaderlapp bot dem Papst seinen Rücktritt an – und auch der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, der wegen seiner früheren Kölner Tätigkeit als Personalchef und Generalvikar schwer belastet wurde, beugte sich dem Druck und bat den Papst ebenfalls, seinen Amtsverzicht anzunehmen.
Woelki, so die Bilanz dieses Tages, hatte sich als radikaler Aufklärer gezeigt und durchgegriffen. Niemals zuvor hatte ein Missbrauch-Gutachten in einem deutschen Bistum derartige Konsequenzen nach sich gezogen Woelki selbst wurde durch das neue Gutachten übrigens ebenso wenig belastet wie durch die frühere Arbeit von WSW – eine Pointe, die sich Gercke nicht entgehen ließ.
Betroffene fühlen sich erneut missbraucht
Würde die neu gewonnene Klarheit nun auch einen Prozess der Versöhnung im Erzbistum befördern? Die Hoffnung darauf wurde enttäuscht. Einerseits ließen sich die schweren Auseinandersetzungen, die Woelkis Vorgehen in Sachen WSW im Betroffenenbeirat des Erzbistums ausgelöst hatten, nicht beilegen: Nach wie vor fühlen sich ehemalige Beiratsmitglieder tief verletzt, ja neuerlich missbraucht. Kurz nach Veröffentlichung des Gutachtens wurde zudem ein weiterer Missbrauchsfall, der um den Düsseldorfer Pfarrer Michael D., publik. Woelki hatte zwar einerseits frühere Vorwürfe gegen den Mann neu untersuchen lassen, ihn aber andererseits zum stellvertretenden Stadtdechanten befördert – ein Fehler, den er viel zu spät einräumte. Bei einem Besuch der betroffenen Düsseldorfer Gemeinde zeigten protestierende Gläubige dem Kardinal symbolisch die Rote Karte. Und: Es war ja nicht nur der Streit um den Umgang mit sexualisierter Gewalt, der viele Gläubige gegen Woelki aufbrachte.
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Sein Ziel einer Zusammenlegung von Pfarrgemeinden („Pastoraler Zukunftsweg“) und seine massive Kritik an Reformwünschen auf dem „Synodalen Weg“ taten ein Übriges. Woelki stand damit auch in der Deutschen Bischofskonferenz nahezu allein. 14 seiner 15 Stadt- und Kreisdechanten verlangten von ihm „persönliche Konsequenzen“. Diese Intervention wurde am 25. Mai bekannt. Am 28. Mai ordnete Papst Franziskus eine Apostolische Visitation durch zwei Bischöfe in Köln an.
Der Fall Marx und die Folgen
Ein paar Tage zuvor hatte ein anderer deutscher Erzbischof bereits persönliche Konsequenzen gezogen. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx bot am 21. Mai seinen Rücktritt an, um Mitverantwortung für „die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs“ zu übernehmen. Zwei Wochen später ließ der Papst dieses Schreiben veröffentlichen und dann kurz darauf seine Reaktion: Marx bleibt im Amt.Dabei war jedem Beobachter klar, dass Marx nicht nur für Schuld im System Kirche insgesamt einstehen wollte, sondern schon im April eigene Fehler in seinem früheren Amt als Bischof von Trier hatte einräumen müssen. Vor diesem Hintergrund hatte er auf eine Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz verzichtet. Wie wollte der Papst nach den für Marx geltenden Maßstäben nun überhaupt noch den Rücktritt eines deutschen Bischofs annehmen?
Steinhäuser und die Probezeit für Woelki
Im Herbst folgen die Entscheidungen dann Schlag auf Schlag: Heße bleibt im Amt, Schwaderlapp (mit einem einjährigen Auslandseinsatz in Kenia) und Puff ebenso. Für Woelki ließ sich der Papst etwas Besonderes einfallen: Er bleibt Erzbischof von Köln, bis Aschermittwoch 2022 wird ihm aber die Leitung seiner Diözese entzogen.Der vom Papst eingesetzte Interimschef des größten deutschen Bistums, Rolf Steinhäuser, machte bald deutlich, dass er sich nicht nur als braver Statthalter sieht. Offen thematisierte er die Konflikte im Erzbistum und erklärte auch, dass Woelki nach seiner Rückkehr am 4. März 2022 zunächst eine Probezeit bevorstehe. Es gebe da ein „sehr enges Zeitfenster“, sagte er der Rundschau. Auch er, Steinhäuser, selbst werde dem Vatikan ungeschönt mitteilen, ob er für das Erzbistum eine Zukunft mit Woelki an der Spitze sehe.Dann begann Steinhäuser eine Untersuchung alter Verträge des Erzbistums. 2,8 Millionen Euro wurden demnach für externe Juristen und PR-Berater bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen ausgegeben, nur 1,5 Millionen flossen bisher an Betroffene. Bei der Auftragsvergabe an die Kanzleien WSW und Gercke Wollschläger wurden kirchenrechtliche Fehler gemacht. Woelkis Generalvikar Markus Hofmann, der unter Steinhäuser als Delegat weiter amtiert, bot seinen Rücktritt an, der Vatikan lehnte dies ab. Nun lässt Steinhäuser Aufträge der letzten zehn Jahre überprüfen.
Schwere Fehler in Trier
Die Kölner Vorgänge haben die Auseinandersetzungen in anderen Bistümern lange überlagert – trotz des Falles Marx. Nicht nur der heutige Münchner Kardinal, sondern auch sein Trierer Nachfolger Stefan Ackermann und der frühere Trierer Generalvikar Georg Bätzing, heute Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, müssen sich seit Jahren Vorwürfen wegen ihres Agierens an Mosel und Saar stellen. Kurz vor Weihnachten machte der „Spiegel“ neue Details publik. Der Kirchenrechtler Thomas Schüller sieht das Bistum Trier als „eines der schlimmsten Beispiele mangelhafter Aufarbeitung“.
Welche Rolle spielte Ratzinger?
Und München, Marx’ heutige Wirkungsstätte? Dort liegt ein WSW-Gutachten seit 2010 unter Verschluss, ein neues soll nun nach langer Verzögerung im Januar 2022 herauskommen. Zu untersuchen war auch das Verhalten des wohl prominentesten deutschen Ex-Erzbischofs: Papa emeritus Benedikt XVI., also Joseph Ratzinger, in dessen Amtszeit als Münchner Oberhirte (1977–1981) schwere Versäumnisse beim Umgang mit einem pädophilen Priester fallen. Der ehemalige Generalvikar Gerhard Gruber nimmt bis heute alle Schuld auf sich – aber werden ihm die Gutachter darin folgen? Der Fall könnte die katholische Kirche noch heftiger erschüttern als die Kölner Stürme.
Rumoren auch bei den Protestanten
Eklat in der Evangelischen Kirche: Im Mai löste die EKD ihren Betroffenenbeirat auf, bis heute hat sich kein neuer konstituiert. Auseinandersetzungen über das Thema überschatteten die Neuwahl zum EKD-Rat im November. Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, die wegen ihrer Arbeit als Missbrauchsbeauftragte kritisiert worden war, wurde EKD-Ratsvize. Ratsvorsitzende und damit Nachfolgerin von Ratspräsident Heinrich Bedford-Strom wurde die westfälische Präses Annette Kurschus. Die erst im Mai neu gewählte Synodenpräses Anne-Nicole Heinrich hatte sich bei dem Thema zunächst zurückgeholten, forderte nun aber eine stärke Rolle der Betroffenen.
Eine Studie, wie es sie für die katholische Kirche in Deutschland sowohl auf Bundesebene als auch in zahlreichen Bistümern gibt, soll 2023 vorliegen. (rn)