In den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg fuhren hungrige Kölner ins Umland, auf der Suche nach Essen. Das führte zum Overather Kartoffelkrieg. Eine neue Folge in der Rundschau-Serie Babylon Köln.
Babylon KölnAls Kölner und Overather beim Kampf um die Kartoffel starben
Nervosität herrschte am Bahnhof Overath am 26. Oktober 1923. Der 9-Uhr-Zug mit etwa 400 Räubern aus Köln-Kalk sollte gleich einlaufen. Etliche Bürger und Bauern, darunter sieben Landarbeiter auf Pferden, hatten deshalb das Gebäude umstellt, um die Ankömmlinge zurückzudrängen, wie sie es bereits zwei Stunden vorher erfolgreich mit dem Frühzug geschafft hatten. Doch das sollte diesmal misslingen. Die hungrige Menschenmenge, die da aus dem Zug strömte, dachte in ihrer Verzweiflung gar nicht daran, mit leeren Händen zurückzufahren. Die Kölner gingen in den Gegenangriff über. Steine und Flaschen flogen. Ein Pflasterstein traf den Schlossermeister Röger, eine Bierflasche den Kaufmann Carl Mibach. Kämpfe brachen aus. Die Kölner trieben die sieben Reiter, die ihnen die Hauptgegner zu sein schienen, bis in den Hof der Schmiede von Johann Nümm. Eine Art Belagerung begann. Steine zersplitterten Fensterscheiben.
Das Feuer auf die Kölner eröffnet
Den 28 Jahre alten Ackergehilfen Emil van Drenke vom Gut Oberheide packte die Panik. Er begann auf die Kölner zu feuern. Mit einem Armeerevolver erwischte er zwei von ihnen tödlich und ergriff dann die Flucht. Über das Bahngleis, rein in die Fluten der Agger, beständig unter Beschuss. Seine Verfolger waren aber offenkundig militärisch trainiert. An der Aggerbrücke schnitt man ihm den Weg ab. Am Gutshof Brücke traktierte man ihn erbarmungslos mit Knüppeln, bis er kaum mehr wiederzuerkennen war. Emil van Drenke, geboren in der Oberlausitz, erlag am 27. Oktober 1923 seinen Verletzungen. Er war ein Opfer des Overather Kartoffelkriegs.
Minütlich verlor das Geld im Krisenjahr 1923 an Wert. Ein Zentner Kartoffeln kostete am 15. Oktober 1923 1 Milliarde Mark, am 18. Oktober schon drei, am 25. Oktober schon 10 und am 28. Oktober 20 Milliarden Mark. Das aber war noch nicht einmal das Hauptproblem. Selbst mit Geld nämlich waren in Köln Kartoffeln oder andere Notwendigkeiten des Lebens kaum zu besorgen. Köln und Umland waren nach dem Ersten Weltkrieg von den Briten besetzt, mit eigener, an Großbritannien orientierter Zeitzone. Ganz in der Nähe begann schon die französische Besatzungszone. Andernorts hatten Belgier das Sagen. All diese Grenzen machten die Versorgung in Mangelzeiten zum Albtraum. Wer verstand bei peinigendem Hunger schon, dass sich die Kartoffelernte wegen schlechten Wetters in diesem Jahr verzögerte? Panik machte sich breit, dass es in diesem Winter zu wenig Lebensmittel geben könnte.
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Hunger der Kölner: Aufbruch ins Bergische Land
Wenn aber die Not groß ist, machen sich die Menschen dorthin auf, wo sie Linderung erhoffen. Das war im Herbst 1923 für die Kölner das Bergische Land. Zunächst waren es vorzugsweise Kinderscharen aus Kalk, die mit Säcken ausgestattet bei der Landbevölkerung bettelten und dann auch nicht selten eine warme Mahlzeit und eine kostenlose Unterkunft erhielten. Doch schließlich gingen ab dem 20. Oktober 1923 verstärkt auch die Erwachsenen aus der Domstadt, wie schon in den Mangelzeiten des Weltkriegs eingeübt, auf sogenannte Hamsterfahrt – zuerst zu Fuß oder per Rad, mit Säcken, Kisten und Kasten ausgestattet. Auf den Andrang reagierte die Bahn mit speziellen Sonderzügen, voller Passagiere mit knurrendem Magen, die von Brot, Butter, Getreide, Obst und Eingemachtem träumten – vor allem aber von Kartoffeln, die man so praktisch transportieren und lange lagern konnte. Die Taschen gefüllt mit allem, was Wert haben könnte – also weniger Papiergeld, sondern Schmuck, Besteck oder sonstige Ausstattungsstücke.
In Overath und Honrath und Umgebung war man ob des Ansturms überfordert. Dass Kundschaft die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Region durch Tausch erwerben wollten, wäre ja noch angegangen. Aber viele der anreisenden Großstädter, gebeutelt von den vorhergehenden Kriegsjahren, hatten einfach nichts mehr, was sie anbieten konnten. „Die Stadt Köln baut Messen und Grüngürtel und Sportplätze und Hafenanlage“, ätzte das Mucher Tageblatt. „Ihre Erwerbslosen können betteln und plündern gehen, wenn sie hungrig sind.“
Kölner griffen zum Spaten
Statt mit Tauschwaren kamen somit etliche Kölner mit Schaufeln angereist und griffen zur Selbsthilfe. Gierig durchwühlten sie die Kartoffelfelder, um heim zu transportieren, was irgend möglich war. „Mancher Hof und manches Bauernhaus wurde völlig ausgeplündert, nicht allein von Kartoffeln, sondern auch von Getreide und Federvieh“, berichtet die Lokalpresse. „Das letztere wurde mit Knüppeln totgeschlagen und in Säcke gesteckt. Auch mehrere Geschäfte wurden heimgesucht.“
Die gleichfalls nicht im Überfluss schwimmenden bergischen Bauern sahen ihre eigene Existenzgrundlage gefährdet und riefen den Staat um Hilfe. Das waren in diesem Falle die Franzosen, die aber weniger Engagement an den Tag legten, als sich die Bauern erhofft hätten – angeblich forderten sie als Gegenleitung für ihre Unterstützung die Ausrufung einer vom restlichen Reich unabhängigen Rheinischen Republik als Pufferstaat zwischen Frankreich und Deutschland. Die Polizei von Köln fühlte sich nicht zuständig. Also verlegten sich die ersten Bauern auf Selbsthilfe, versuchten die Kölner abzuwehren. Aber die ausgehungerten Ankömmlinge ließen sich durch derartige Grenzkontrollen nicht abwehren. Handgreiflichkeiten brachen aus, die schließlich in Kämpfe um Leben und Tod gipfelten. Kölner wie auch Overather ließen ihr Leben. Darunter auch Emil van Drenke.
Nun eskalierte die Situation endgültig. Im Bergischen Land läuteten sogar die Kirchenglocken zur Verteidigung. Man griff sich, was als Waffe taugte, um die eigenen Felder und die eigene Lebensgrundlage zu beschützen: Vom aus Kriegszeiten übrig gebliebenen Revolver bis hin zu Mistgabeln und Dreschflegeln. „Zu Hunderten kamen die Bauern aus der Bürgermeisterei Overath, Wahlscheid und Hoffnungsthal zusammen, alle mit handfesten Stöcken und Knütteln bewaffnet, und ließen die Leute nicht von den Bahnhöfen.“ Blutige Kämpfe überall.
Die Situation eskaliert
Das ging so einige Tage. Aber die Abwehr war immer besser organisiert. Schließlich zwangen die Bauern die Lokführer sogar, anfahrend Züge nach Köln zurückzufahren. Das „Mucher Tageblatt“ schrieb am 31. Oktober 1923 von „Anarchie im Aggertal“. Erst nach etlichen weiteren Toten und Verletzten auf beiden Seiten reagierte die französische Besatzungsmacht und stellte Soldaten zur Bewachung der Felder auf. Im November 1923 erfolgte zudem die Währungsreform, die der Hyperinflation ein Ende bereitete. Zuletzt hatte ein Zentner Kartoffeln über 525 Milliarden Mark gekostet. Der „Overather Kartoffelkrieg“ war beendet. Das Verhältnis von Köln und Bergischem Land normalisierte sich wieder. Emil van Drenkes Mörder aber wurden nicht bestraft.