Er wurde einfach an die Wand gestellt, weil die Ordnungshüter überzeugt waren, Hubert Weyerstraß sei an einer wilden Schläger- und Schießerei maßgeblich beteiligt gewesen. Eine neue Folge in der Rundschau-Serie Babylon Köln
Grausame Hinrichtung in Köln„Schweinehund, du wirst erschossen“
Im November 1918 war in Köln wie im Rest Deutschlands die Revolution ausgebrochen, die sowohl den Ersten Weltkrieg, als auch das Deutsche Kaiserreich beendete. Die Kämpfe an der Front waren vorbei. Dafür herrschte nun in der Heimat Chaos. Auch den Kölnern knurrte der Magen. Der hastig gebildete Arbeiter- und Soldatenrat schaffte es nur unzureichend für Ordnung zu sorgen. Es kam zu Plünderungen. Bei wilden Prügeleien kämpfte jeder gegen jeden, vor allem aber Wachmannschaften mit Plünderern. So auch am 11. November nachts im Rheinauhafen. Zwei junge Leute landeten im Rhein. Vier wurden sogar erschossen, darunter ein 18 Jahre alter Wachsoldat.
Wer war verantwortlich? Aus der Menge griff sich Ludwig Thill, einer der Ordnungskräfte, Hubert Weyerstraß, den 21 Jahre alten Sohn eines Wirts. Wegen „Widersetzlichkeit“, hieß es später. Thill brachte ihn zum Deichmannshaus, wo die provisorische Zentrale des Arbeiter- und Soldatenrats untergebracht war.
Schon auf der Fahrt wurde Weyerstraß drangsaliert. Das Eiserne Kreuz soll man ihm von der Brust gerissen, ihm sein Geld und seine Uhr geklaut haben. Das offizielle Verhör wurde nicht angenehmer. Die Unruhen im Hafenviertel sollten unbedingt ein Ende finden. Weyerstraß sollte verraten, wer den Wachsoldaten erschossen hatte. Wer weiß, ob Weyerstraß die Antwort verweigerte oder es schlichtweg nicht wusste. Jedenfalls wurde er immer heftiger bedroht. Es sei doch erwiesen, dass er geschossen habe. Wenn er die Namen nicht verrate, werde man ihn erschießen. Man soll ihm den Revolver sogar auf die Brust gesetzt haben. Weyerstraß beteuerte seine Unschuld. Also wendete sich der Sicherheitsausschuss an Ludwig Thill, der Weyerstraß ja festgenommen hatte. Er solle ihn ins Gefängnis bringen und durch Einschüchterungen weiter versuchen, die Namen der Täter aus ihm herauszuholen. Der 1874 in Nippes geborene Thill trug zwar eine Uniform, war aber eigentlich Zahntechniker, der nur aufgrund der chaotischen Zustände schnell rekrutiert worden war. Ihn begleitete ein gewisser Ernst Kahn.
„Wo ist hier die Stelle, an der hingerichtet wird?“, fragte Thill den aufsichtsführenden Gefängnisbeamten, als er mit Gefangenem und Begleiter im Klingelpütz angekommen war. Der antwortete verdutzt: „Da hinten um die Ecke ist die Guillotine stets aufgestellt worden.“ Zu seinem Entsetzen schleppten die beiden Uniformierten ihren Arrestanten dorthin. „Du wirst sofort erschossen“, sagte Thill zu Weyerstraß: „Bete dein Vaterunser.“ Der Gefängniswärter glaubte, nicht richtig zu hören. Sie hätten doch kein Recht, jemand zu erschießen, protestierte er. Daraufhin wurde er ebenfalls mit der Schusswaffe bedroht. Hilflos sah er mit an, wie man Weyerstraß, der beständig seine Unschuld beteuerte, der jetzt wimmernd um sein Leben bat und Vater und Mutter noch einmal sehen wollte, an die Mauer stellte.
Er sackte getroffen in sich zusammen
Thill befahl Kahn, das Gewehr anzulegen, um das „Todesurteil“ zu vollstrecken. „Ich sterbe unschuldig“, rief Weyerstraß. „Ach was, du Schweinhund, du wirst erschossen“, antwortete Thill. Er habe Weyerstraß nur einschüchtern wollen, beteuerte er später. Sein nächster Befehl wäre es gewesen, das Gewehr wieder abzusetzen. Aber während sich Thill noch nach der anderen Seite wandte, drückte Kahn schon ab. Weyerstraß sackte getroffen in sich zusammen. Auf dem Südfriedhof sollte die Leiche des jungen Weyerstraß obduziert werden. Ein Schuss ins Herz hatte ihn getötet.
Der schockierte Wärter zeigte die Vorkommnisse umgehend an. Die Öffentlichkeit zeigte sich entsetzt. „Die beiden Meuchelmörder dürften inzwischen zum Tode verurteilt und hingerichtet worden sein“, meldeten die Zeitungen. Aber weit gefehlt. Erst einmal waren beide nur festgenommen worden. Kahns Verteidiger meldete sich öffentlich zu Wort. Alles sei so verworren gewesen, dass in Kahn die Überzeugung erweckt worden sei, „dass der Verhaftete auf Befehl des Soldatenrats zu erschießen war“. Im Büro im Deichmannhaus habe er geglaubt, einen mit vier Stempeln versehenen Bogen erblickt zu haben. Er habe den Text nicht gelesen, das Dokument aber für ein ordnungsmäßiges, vollstreckbares Todesurteil gehalten. Diese Annahme sei durch Thills Verhalten bestärkt worden. Und so schnell geschossen habe er nur, um die Leiden des furchtbar aufgeregten jungen Weyerstraß abzukürzen. Die Exekution beruhe somit „auf einem beklagenswerten Irrtum, der durch die verworrenen Verhältnisse der ersten Revolutionstage hervorgerufen worden ist“.
„Als im Anfange der Revolutionszeit Plünderungen stattfanden, stellte Thill sich dem Sicherheitsdienste zur Verfügung und tat drei Tage und Nächte lang ununterbrochen Dienst“, versuchte der Verteidiger von Ludwig Thill die Rolle seines Klienten zu entschuldigen. Thill habe während der Fahrt und im Klingelpütz seinen Gefangenen eingeschüchtert, wie es ja vorher schon der Sicherheitsausschuss getan habe. Im Hof des Gefängnisses habe Thill gerade eingesehen, dass er bei Weyerstraß nichts ausrichten könne. „Dann hinein in die Mörderzelle“, habe er gesagt, als Kahn schon „Weg, weg“ geschrien und geschossen habe. Die Erschießung sei ein Missverständnis gewesen.
Die Staatsanwaltschaft leitete eine Voruntersuchung ein, während die Zeitungen spekulierten. Sämtliche Beteiligte waren überarbeitet, nervös und in höchster Aufregung gewesen, deswegen sei eine Anklage auf Mord nicht wahrscheinlich. Es laufe wohl eher auf Totschlag oder tätliche Körperverletzung hinaus. Der Arbeiter- und Soldatenrat habe schließlich dem Hauptangeklagten Kahn attestiert, dass er offenbar von einer fixen Idee befallen worden sei, der ihm übergebene Einlieferungszettel stelle ein Todesurteil dar. Er habe also ohne Überlegung und Vorsatz gehandelt.
Schon am 12. November aber erfolgte eine überraschende Wendung. „Für alle politischen Straftaten wird Amnestie gewährt“, hieß es im Aufruf der Volksbeauftragten an das deutsche Volk. „Die wegen solcher Straftaten anhängigen Verfahren werden niedergeschlagen.“ Und der Begriff der politischen Straftaten sollte nach dem Willen der Reichsregierung weit ausgelegt werden – schon allein, um die überlasteten Gerichte zu schützen. Amnestiert waren ausdrücklich alle Straftaten, die von Ordnungstruppen verübt wurden. Somit blieb der Tod von Weyerstraß für Thill und Kahn folgenlos.
Vater Weyerstraß zeigte sich fassungslos. „Ein schweres Verbrechen soll ungesühnt bleiben!“, schrieb er empört an die Zeitungen. Verzweifelt strengte er eine Zivilklage gegen Thill an. Aber auch diese verlief im Sande.