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Ordnung schaffen„Aufräumen mit Marie Kondo“ – Wie das Aufräumen Kult wird

Lesezeit 4 Minuten
Kleiderschrank

Symbolbild

Die Kisten türmen sich bis zur Decke, in die Garage passt nichts mehr, schon gar nicht das Auto, im Kinderzimmer herrscht Chaos: Da müsste man mal aufräumen. Anderen Menschen dabei zuzusehen, liegt im Trend. Die Netflix-Serie „Aufräumen mit Marie Kondo“ widmet sich vollgestopften US-Haushalten, die unter den Händen der japanischen Aufräumfee vorzeigbar werden.

Kondo ist weltweit Kult. Nachahmer fluten das Netz mit ihren Erfahrungen. Was fasziniert die Menschen momentan so am Aufräumen und Ordnung halten (zumindest in der Theorie)?

In vielen Haushalten häufen die Leute Klamotten zu Bergen an. Zu riesigen Bergen. Sie holen alle Oberteile und Hosen aus Schränken, Schubladen und aus im Keller vergessenen Kisten. Warum? Erklärtes Ziel ist ein heilsamer Schockmoment: Ausmisten soll so leichter fallen, glaubt man den Gurus der Aufräumszene – wie der japanischen Bestsellerautorin Marie Kondo. Nicht zuletzt mit ihrer neuen Netflix-Serie hat sie die verhasste Kindheitsaufgabe zu einer Art Trendsportart gemacht. Das zeigt sich vor allem in sozialen Medien.

Kontrolle übers eigene Leben

In „Aufräumen mit Marie Kondo „hilft die zierliche Mittdreißigerin („Magic Cleaning“) US-Amerikanern, wieder die Kontrolle übers eigene Leben zu gewinnen – zwischen Kleiderbergen und bis zur Decke reichenden Baseballkartensammlungen.

Marie Kondos Tipps

Marie Kondo in ihrer Serie.

Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, was man loswerden, sondern was man behalten will.

Nehmen Sie sich eine Kategorie vor und setzen sich eine Deadline. Zum Beispiel eine halbe Stunde für die Kategorie „Socken“ oder „Stifte.

Sortieren Sie nach Kategorien, nicht nach Orten wie „heute Bad, morgen Flur“. Reihenfolge: Kleider, Bücher, Papiere, Erinnerungen...

Nehmen Sie jedes Teil in die Hand und achten auf Ihr Körpergefühl. Macht es mich wirklich glücklich?

Zum Thema Kleidung: Alles, was man besitzt, ist auf einen Blick überschaubar. Man sollte es zudem griffbereit und platzsparend verstauen.

Schaffen Sie sich eine Art „Altar“ für Erinnerungen, der nicht größer wird und nur mit ganz besonderen Dingen bestückt wird.

Stets adrett und in pastelligen, zum Sofabezug passenden Farben gekleidet, referiert sie über das richtige Zusammenfalten von Tops, die Aufbewahrung von Fotos in Alben und das Verstauen von Weihnachtsdeko. Ja, dabei brauchen Menschen im Jahr 2019 allem Anschein nach Nachhilfe. Das Internet ist voll mit Illustrationen, die zum Beispiel Kondos Falttechnik für Kleidung Schritt für Schritt erklären – eine Art Origami für Jeans und T-Shirts, damit diese am Ende in der Schublade stehen statt liegen. Zur besseren Übersicht.

Die wohl wichtigste Kondo-Regel: Behalten soll man nur Dinge, die Freude entfachen. Freude? So, wie wenn man einen Welpen halte, formuliert es Kondo in der Sendung. Resultat sind in einer Folge der Serie 150 große Müllsäcke voller Kram. Aus einem Haushalt.

Häufig Stein des Anstoßes

Kondo erreicht schon länger auch auf YouTube Zigtausende Menschen. Den sozialen Medien hat sie neue Statussymbole beschert: Neben definierten Körpern, stylischen Klamotten und lockeren Milchschaumhäubchen auf dem Cappuccino zeigen viele Nutzer bei Facebook und Instagram nun Schubladen mit perfekt gefalteten T-Shirts. Auf Facebook gibt es allein im deutschsprachigen Raum mehrere Aufräumgruppen mit tausenden Mitgliedern, in denen Tipps und Erfolge geteilt werden. Schaut her, ich habe mein Leben im Griff – auch diese Botschaft steht bei manchen Beiträgen zwischen den Zeilen.

„Aufräumen als ein Fest erleben“, unter diesem Titel ist in Berlin eine Veranstaltung zum Thema angekündigt. In der Serie zeigt sich Kondo darüber hinaus überzeugt, dass Paare durch Aufräumen näher zusammenfinden. „Das bisschen Haushalt“ und alles was dazu gehöre, sei tatsächlich sehr häufig der – scheinbare – Stein des Anstoßes in Beziehungen, erklärt auch die Berliner Paartherapeutin Daniela Bernhardt. Wenn der Haussegen schief hänge, liege das aber selten an der falsch eingeräumten Spülmaschine oder den rumliegenden Socken: Abnehmende Toleranz und Verweigerung könnten Folge tieferliegender Konflikte sein – „wie zum Beispiel mangelnde Wertschätzung oder fehlende Erotik“. Kondos Methode widmet sich – anders als bisherige deutsche Coaching-Serien wie „Super Nanny“ oder „Raus aus den Schulden“ – einem Thema, dem sich in der westlichen Welt kaum jemand komplett entsagen kann: dem Umgang mit Konsum.

Coach: Sammeln hat sich im Laufe der Evolution bewährt

Knapp 60 Gegenstände hätten unsere Urgroßeltern besessen, hieß es im Film „100 Dinge“ mit Matthias Schweighöfer, heute seien es im Schnitt um die 10.000. Als Grund für den Sammeltrieb nennt der Hamburger Aufräumcoach Clemens Neuhauser: „Sammeln hat sich im Laufe der Evolution bewährt.“ Erst seit etwa 1950 gebe es einen materiellen Überfluss, im Umgang damit sei das menschliche Gehirn aber überfordert. „Schnäppchen fühlen sich einfach großartig an.“ Das Anhäufen habe manchmal komplexere Ursachen wie einen in der Kindheit erlebten Mangel. Kondos Strategien hält Neuhauser für hilfreich, um Strukturen zu schaffen, in denen Ordnung möglich ist. Nach seiner Erfahrung besitzen Manche aber schlicht zu viele Dinge, als dass sie sinnvoll Ordnung schaffen könnten. Das Problem loszulassen hänge damit zusammen.

Wer sich damit schwertut, muss nun nicht verzagen. Wie bei jedem Trend gibt es auch beim Minimalismus Gegenbewegungen. „Less-is-more ist tot – es lebe der Überfluss!“, hieß es kürzlich in der „Süddeutschen Zeitung“: Beim Einrichten gehe es jetzt wieder um Dekorieren „auf Teufel komm raus“. Marie Kondo findet das sicher nicht so toll. (red)