Steht uns eine deutsche Schicksalswahl bevor? Historikerin Hedwig Richter spricht im Interview über Demokratie und Populismus.
Historikerin zur Bundestagswahl„Der Vergleich mit Weimar ist irreführend“

Fast 60 Millionen Deutsche entscheiden, wer Kanzler wird. Doch derzeit scheint die Demokratie zunehmend in Gefahr – nicht nur in Deutschland.
Copyright: dpa
Wahlen, Stimmenkauf, Ausgrenzung: Hedwig Richter kennt sich aus mit den Licht- und Schattenseiten der Geschichte der Wahlen. Die Historikerin ist Expertin für die deutsche Demokratiegeschichte. Seit 2020 ist Richter Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Mit ihr sprach Philipp Ebert.
Frau Richter, wie finden Sie Wahltage?
Großartig, ein Hochamt der Demokratie! Die Zunahme an Briefwählern sehe ich aber skeptisch. Das gemeinsame Wählen an öffentlichen Orten ist eine wichtige Tradition.
Alles zum Thema Bundeswehr
- Vorstoß Unionsfraktion will mit SPD rasch Klarheit über Sondervermögen für Bundeswehr schaffen
- Eklat bei Selenskyj-Besuch Wie Trump sein Scheitern überspielte - und was das für Europa heißt
- Eklat im Weißen Haus Trump lässt Europa im Stich - und was tun wir jetzt?
- Internationale Sicherheitslage Söder fordert zigtausende Panzer, Drohnen und Raketen für die Bundeswehr
- Rundschau-Debatte des Tages Woher kommen Milliarden für Verteidigung und Ukraine?
- Feuerbälle, die in kleinere Stücke zerfallen Raketenteile verglühen - „wie ein Science-Fiction-Film“
- Polizei greift ein Wuppertaler durch langes Glockengeläut in der Nacht verunsichert
Wahlen in Deutschland sind laut Grundgesetz frei, gleich, geheim und unmittelbar. Wie selbstverständlich ist das eigentlich?
In vielen Ländern wurde ursprünglich durch Zuruf gewählt. Mit der Zeit setzte sich der Stimmzettel durch, auch um das Wahlgeheimnis zu wahren. Allerdings wurde das im 19. Jahrhundert etwa in den USA oft unterlaufen. Korruption und Stimmenkauf florierten. Und damit nachvollziehbar war, wer wie abgestimmt hatte, druckten die Parteien die Stimmzettel in spezifischen Farben.
Bei der Bundestagswahl wird man auf die Wahlbeteiligung schauen. Die erreichte in Westdeutschland zu Zeiten von Kanzler Willy Brandt ihren Höhepunkt – und sinkt seitdem. Ist das schlimm?
Wahlenthaltung wird oft als Anzeichen einer Krise gesehen. Doch sie kann auch Zufriedenheit ausdrücken. In der Schweiz ist die Wahlbeteiligung traditionell niedrig, während krisengeplagte Länder oft eine hohe Beteiligung aufweisen, weil die Menschen Veränderungen wünschen.
Wahlenthaltung gehört zur Freiheit, aber es ist für Demokratien besser, wenn Bürger und Bürgerinnen wählen. Und tatsächlich steigt die Beteiligung seit einigen Jahren wieder. Wobei ich anmerken will: Es ist schon interessant, dass sich Massenwahlen durchgesetzt haben. Schließlich hat die einzelne Stimme wenig Einfluss.
Stichwort Krise: Passen eigentlich die Vergleiche unserer Zeit mit der Weimarer Republik?
Der Vergleich mit Weimar ist eher irreführend, wir haben heute andere Probleme. In Weimar herrschten etwa massive Armut und Hunger. Heute erfordern Globalisierung, Migration und Klimawandel schnelle Veränderungen. Demokratien haben grundsätzlich die Mittel zur Bewältigung dieser Krisen, aber es fehlt oft an Mut seitens der demokratischen Parteien, die Bevölkerung mitzunehmen.
Sie sprechen von „demokratischen“ Parteien. Diese werden ja landläufig von sogenannten „populistischen“ Parteien unterschieden. Gehört der Populismus also eigentlich nicht zur Demokratie?
Gute Frage. Demokratien mit ihrer Massenmobilisierung und -kommunikation bergen immer die Möglichkeit, Populismus hervorzubringen. Übrigens: Auch Faschismus und Nationalsozialismus gingen fast immer aus demokratischen Systemen hervor, nicht aus Monarchien oder ständischen Staaten. Demokratie mit ihrer großartigen Idee der Gleichheit kann eben auch missbraucht werden, um extreme oder totalitäre Projekte durchzusetzen.
Womit wir bei der „Tyrannei der Mehrheit“ wären, vor der im 19. Jahrhundert der politische Denker Alexis de Tocqueville gewarnt hat.
Deswegen ist es für mich wichtig, von liberaler Demokratie zu sprechen. Demokratie steht für die Gleichheit aller Menschen. Der Liberalismus für die Freiheit – ganz grob gesagt. Liberale Demokratien bringen beides in ein Gleichgewicht. Zu ihnen gehört die Gewaltenteilung, die den Mehrheitswillen einschränkt. Oder das Parlament, die Repräsentativität, die eben keine direkte Demokratie ist. Populisten und Extremisten greifen oft jene Elemente der Staatsordnung an, die das Mehrheitsprinzip einschränken – weil diese den vermeintlichen Volkswillen von der Durchsetzung abhalten.
Der Vorwurf, Demokratie oder Rechtsstaat abschaffen zu wollen, kann aber auch selbst zum Mittel der politischen Auseinandersetzung werden. Wie kann man demgegenüber eine echte Gefahr für die Republik erkennen?
Die Grenze wird meines Erachtens überschritten, wenn die Menschenwürde angetastet wird. Denn sie geht mit der Gleichheit der Menschen Hand in Hand. Wenn also bestimmten Gruppen die Menschenwürde abgesprochen wird, wird es gefährlich. Wie auch beim Angriff auf liberal-demokratische Institutionen, zum Beispiel auf das Parlament oder den Rechtsstaat. Wenn es etwa im Zuge der Migrationsdebatte heißt, das Recht müsse dem politischen Willen weichen, dann ist eine Grenze erreicht.
Europa wurde nicht nur durch die Aufklärung geprägt, sondern auch durch das Christentum. Spielte das auch eine Rolle?
Das ist nicht ganz leicht zu sagen. Bestimmt hat die aus dem Judentum stammende Idee eine Rolle gespielt: Gott schuf den Menschen nach seinem Abbild. Dennoch ist die Kirchengeschichte oft von Ausgrenzung geprägt, denken Sie nur an den oft unmenschlichen Umgang mit Nicht-Gläubigen bis weit ins 20. Jahrhundert. Die katholische Kirche bekämpfte lange die Demokratie und akzeptierte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufklärerische Ideen wie Mitbestimmung, Gleichheit und Rationalität.