Der Chef der Bundesnetzagentur wirft schon jetzt einen Blick auf die zweite Heizsaison ohne russisches Gas. Und er sagt, was aus seiner Sicht nötig ist, um die energieintensive Industrie auf Dauer im Land zu halten.
Interview mit Chef der NetzagenturIst Deutschland gerüstet für den Winter, Herr Müller?
Als Russland vor einem Jahr den Gashahn zudrehte, hatte Klaus Müller als Präsident der Bundesnetzagentur einen der stressigsten Jobs des Landes. Bestehen trotz gut gefüllter Speicher auch für diesen Winter noch Restrisiken? Dazu nimmt der 52-jährige Grüne im Interview mit Tobias Schmidt Stellung.
Herr Müller, nach den kühlen Wochen könnte man einen klirrend kalten Winter befürchten. Würde das Gas dann trotzdem reichen, oder droht bei langem Frost noch einmal eine Mangellage wie im letzten Winter?
Wir haben den ersten Winter ohne russisches Pipeline-Gas gut überstanden und wertvolle Erfahrungen gesammelt. Industrie und Haushalte verbrauchen weniger, und wir müssen weniger Gas an andere Länder durchleiten. Die Speicher sind zu fast 90 Prozent gefüllt, und wir haben stabile andere Bezugsquellen. Für eine vollständige Entwarnung wäre es trotzdem verfrüht. Es bleiben Restrisiken. Dazu zählt ein sehr kalter Winter in Europa. Russlands Präsident Wladimir Putin könnte auch den Gashahn für Südosteuropa zudrehen. Zuletzt bleiben Anschläge auf Pipelines als Horrorszenario.
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Also doch noch mal zittern?
Wir werden jedenfalls abermals zum Sparen und achtsamen Umgang mit Gas aufrufen, wenn die Heizsaison naht.
Ein Eindruck, der sich festgesetzt hat: Ohne das billige russische Gas sei die energieintensive Industrie nicht im Land zu halten. Ist der Wettbewerbsvorteil unwiederbringlich verloren?
Das sehr preiswerte russische Gas hat einiges an wirtschaftlicher Tätigkeit erst ermöglicht. Und auch wenn es sehr viele findige Betriebe gibt, die von Gas auf Strom oder andere Substitute umstellen können, so gilt das wahrscheinlich nicht für jeden. Wir sind jetzt viel stärker vom Weltmarktpreis für Gas abhängig. Viele Industrieunternehmen meistern die Herausforderungen durch Effizienz, Technologie und Innovation.
Weil der Ausbau der erneuerbaren Energien zu spät kommt?
Es gibt Branchen wie Chemie, die Gas als Rohstoff benötigen. Ihnen hilft die Energiewende nur begrenzt. Wer mit Strom auskommt, profitiert streckenweise schon jetzt. Die Strompreise sinken auf null und teils sogar ins Minus, wenn reichlich Sonne scheint oder der Wind kräftig weht. Sobald wir mit überschüssigem Strom Wasserstoff produzieren und diesen weiterleiten, bekommen wir das noch ungelöste Speicherproblem besser in den Griff. Und wir müssen natürlich die Stromnetze schneller ausbauen. Aber dabei sind wir auf dem richtigen Weg.
So lange können viele Unternehmen nicht warten.
Stimmt. Und deswegen begrüße ich, dass die Politik verschiedene Varianten diskutiert, um bedrängten Branchen ans rettende Ufer zu helfen. Wir wollen dauerhaft zu so niedrigen und stabilen Energiepreisen kommen, dass auch energieintensive Unternehmen in Deutschland international wettbewerbsfähig bleiben. Dafür müssen allerdings zahlreiche Voraussetzungen erfüllt werden.
Welche?
Der Ausbau von Wind-, Solar- und Biomasseanlagen samt der Netze muss deutlich beschleunigt werden. Das heißt, die Hürden für Genehmigung und Bau müssen weiter gesenkt werden, dazu müssen auch der Denkmal- und Naturschutz beitragen. Und wir brauchen von der kommunalen Behörde über die Länder bis zur Bundesebene noch mehr Tempo, denn das rechnet sich in Cent und Euro. Wegen fehlender Stromnetze entstehen seit Jahren Milliarden Euro an völlig unsinnigen Kosten für Bürger und Unternehmen. Im Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze liegt wohl die größte Herausforderung. Bei der Errichtung neuer, auf Wasserstoff umstellbarer Gaskraftwerke und des Wasserstoff-Kernnetzes sehe ich die entscheidenden Weichen gestellt.
Das ist die Bundesnetzagentur
Gegründet wurde sie 1998 als „Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post“. Nachdem ihre Aufgaben mehrfach erweitert wurden, heißt sie heute offiziell „Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen“. Sie ist zuständig für die Aufrechterhaltung und Förderung des Wettbewerbs in den sogenannten Netzmärkten. Die Behörde mit Hauptsitz in Bonn wird seit März 2022 von Klaus Müller (Foto) geleitet und untersteht dem Bundeswirtschaftsministerium. (EB)
All das ist wirklich in wenigen Jahren zu schaffen?
Wir werden im kommenden Frühjahr einen verbindlichen Pfad für den Aufbau des Wasserstoff-Kernnetzes vereinbart haben. Und für die so händeringend benötigten Kraftwerke werden bald die Ausschreibungen kommen. Die EU hat gerade grünes Licht für die Kraftwerksstrategie von Wirtschaftsminister Robert Habeck gegeben. Das war die schwierigste Hürde. Hinzu kommt die am Mittwoch vom Kabinett vereinbarte Förderung durch den Klima- und Transformationsfonds. Das sind die drei Hauptfaktoren, um die die Investitionshemmung der Wirtschaft zu lösen. Und all das macht mich zuversichtlich, dass es gelingen kann, unsere Industrie in wenigen Jahren mit genug klimaneutraler Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen zu versorgen und eine Deindustrialisierung zu verhindern. Mir sagen viele Unternehmen: Wir schaffen das!
Wie lange werden die Bürger dort, wo viel in Netze und erneuerbare Energien investiert wird, noch durch hohe Netznutzungsgebühren bestraft?
In der Tat werden Regionen, die besonders auf Windkraft setzen, finanziell besonders stark belastet. Ich treffe keinen Energieminister in den Bundesländern, der dieses historisch gewachsene System noch gutheißt. Schließlich sind auch Regionen in Süddeutschland betroffen, in denen viele Windräder aufgestellt werden. Im Bundestag liegt ein Gesetzentwurf, der die Bundesnetzagentur autorisieren würde, faire Netzentgelte einzuführen. Sobald das Gesetz verabschiedet ist, werden wir einen Vorschlag für die Reform machen. Mein Eindruck ist, dass die Energieminister aller Bundesländer dahinterstehen. Denn es liegt auf der Hand, dass wir den Erneuerbaren-Ausbau belohnen sollten. Ich kann den Frust vieler Bürger und Regionen darüber gut verstehen.