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Debatte um Migranten aus AfghanistanUrlaub im Land, aus dem man floh? Wie ein Bericht für Aufruhr sorgt

Lesezeit 4 Minuten
26.08.2021, Afghanistan, Kabul: Rauch steigt von einer Explosion außerhalb des Flughafens in Kabul auf.

Blick auf den Flughafen in Kabul

Die Debatte um Afghanistans Sicherheit entzündet sich an Berichten, dass afghanische Asylsuchende aus Deutschland zurückkehren, um Urlaub zu machen.

Vor drei Jahren übernahmen die islamistischen Taliban die Macht in Afghanistan. Aus diesem Anlass bekräftigte nun die deutsche Außenministerin: „Wir stehen an der Seite der Frauen, Mädchen und aller von den Taliban bedrohten Menschen in Afghanistan.“

Bisher, so Annalena Baerbock, hätten mehr als 34000 von den Taliban verfolgte Menschen im Rahmen von Aufnahmeprogrammen Schutz und Sicherheit in Deutschland gefunden. Insgesamt leben über 400000 Afghanen in der Bundesrepublik. Längst nicht alle empfinden die Lage in ihrer Heimat als gefährlich oder beängstigend. Eine Fernsehreportage zeigt, welch schwunghafter Handel mit Ferienreisen getrieben wird, die afghanische Asylmigranten nach Afghanistan bringen und wieder retour.

Offenbar systematischer Asylrechtsmissbrauch

Von Schutzsuchenden oder Flüchtlingen kann man in jenen Fällen nicht reden, die die RTL-Reporterin Liv von Boetticher publik gemacht hat. Es handelt sich um einen offenbar systematisch betriebenen Missbrauch des deutschen Asylrechts. Politisch Verfolgte genießen demnach das Recht auf Asyl, dürfen dann jedoch nicht in das Land zurückkehren, aus dem geflohen zu sein sie behaupten.

Der Grund leuchtet unmittelbar ein: Niemand betritt freiwillig den Boden eines Staates, wenn ihm dort schwere persönliche Repressalien drohen. Ergo dürften entgegen der offiziellen Einschätzung der Bundesregierung zumindest Teile Afghanistans sichere Herkunfts- und Rückkehrregionen sein.

In der Reportage äußern sich mehrere Beschäftigte von Hamburger Reisebüros in einer verdeckten Recherche so: „Die Deutschen kriegen nichts mit“, „die wissen nichts“, „Deutschland weiß das ja nicht“. Gemeint ist ein Verfahren, das laut den befragten Reisebüromitarbeitern in hoher Zahl genutzt wird.

Einmal ist von mehreren hundert Personen monatlich die Rede, ein anderes Mal von 20 bis 30 Afghanen pro Tag und Reisebüros, die sich eine Gesetzeslücke zunutze machen. Gewiss wäre die Zahl deutlich höher, dehnte man die Recherche auf weitere Städte, weitere Reisevermittler und zusätzliche Herkunftsstaaten aus, etwa Syrien.

„Viele machen regelmäßig Urlaub dort“

Konkret buchen die afghanischen Asylmigranten Flüge nach Teheran, die ihnen erlaubt sind, und verheimlichte Weiterreisen nach Kabul, die theoretisch dazu führen müssten, dass ihnen der Status als Asylberechtigter oder anerkannter Flüchtling entzogen wird. Damit die deutschen Behörden nichts von der wahren Destination erfahren, erhalten sie vom Reisebüro ein Visum für Iran in Form eines losen Blattes Papier. Die Ein- und Ausreise wird in Teheran damit bestätigt. Der „blaue Pass“, der deutsche Reiseausweis für Flüchtlinge, enthält keinen Stempel. Das Stück Papier wird weggeworfen. Ergo sieht es so aus, als hätten die Asylmigranten nur Teheran, nicht aber Kabul besucht.

Ehemalige Ortskräfte, die vor der Taliban-Herrschaft für Deutschland arbeiteten, werden von der Bundesregierung als besonders schutzbedürftig eingestuft. Ihnen gilt das Augenmerk „im Rahmen von Aufnahmeprogrammen“, die Baerbock so lobt. Doch auch Ortskräfte erholen sich gern im Afghanistan der Taliban. Zumindest erzählt eine Ortskraft, die anonym bleiben will, der Reporterin von Boetticher: „Viele machen regelmäßig Urlaub dort.“

Aus der Reportage ergeben sich politische Erkenntnisse: Afghanistan kann gegenwärtig nicht ausschließlich jenes Reich der Gewalt und Unterdrückung sein, als das es skizziert wird, um das von Annalena Baerbock vorangetriebene „Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan“ zu rechtfertigen. Zweitens erscheinen die zahlreichen in Baerbocks „Visa-Affäre“ trotz unklarer Sachlage ausgegebenen Visa für Afghanen nun erst recht fragwürdig. Und drittens beunruhigt Bundesinnenministerin Nancy Faeser der Missbrauch des Asylrechts nicht besonders. Als die SPD-Politikerin zu den Ausreisen mit verleugneter Zieladresse befragt wird, sagt sie lediglich: „Wenn solche Vorwürfe vorliegen, werden wir sie prüfen, und wenn wir Abstellungsmöglichkeiten sehen, auch vornehmen.“

In der Tat liegt eine solche „Abstellungsmöglichkeit“ bereits vor. Sobald die Visa für Iran fest im „Blauen Pass“ angebracht werden müssten statt nur lose hineingelegt, wäre eine Weiterreise von Teheran nach Kabul dokumentiert. Diesen Vorschlag macht Heiko Teggatz von der Deutschen Polizeigewerkschaft DPolG. Eine Debatte über Afghanistan als mittlerweile womöglich sicheres Herkunftsland scheint unausweichlich. Zumindest Schwerstkriminelle will Bundeskanzler Olaf Scholz dorthin abschieben.

Streit im Bundestag über Pendelmigration

Der Bundestag stritt im Juni dieses Jahres auf Antrag der AfD über Pendelmigration, den Gegenstand also der RTL-Reportage. Die SPD-Politikerin Annika Klose warnte damals davor, die Arbeitsämter zur „Aufenthaltsstasi“ für ausländische Bürgergeldbezieher auszubauen. Der FDP-Politiker Jens Teutrine forderte „Akzeptanz für Schutzbedürftige und reguläre Migration“. Seit Beginn dieses Jahres haben 23836 Afghanen in Deutschland Asyl beantragt. Sie sind damit die zweitgrösste Gruppe nach den Syrern.

Dieser Text erschien zuerst in der „Neuen Zürcher Zeitung“.