Trotz des Krieges in Europa hat die Ampel das wichtige Papier vertagt – erst jetzt kommt der Fahrplan für ein Deutschland in einer veränderten Weltlage in den Bundestag. Wird er den Problemen gerecht?
Rundschau-Debatte des TagesWo bleibt die nationale Sicherheitsstrategie?
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat sich in Europa und hierzulande die Lage geändert. Doch wie ist Deutschland darauf vorbereitet? Tatsächlich fehlt bisher eine aktuelle nationale Sicherheitsstrategie. Warum ist das so? Und kommt sie nun doch?
Dass sich die Welt verändert hat, war SPD, Grünen und FDP schon klar, als sie ihren Koalitionsvertrag schrieben. Darin ist festgehalten, dass Deutschland erstmals eine nationale Sicherheitsstrategie braucht, einen Fahrplan also für die veränderte Weltlage. Wie sehr er fehlt, wurde bereits wenige Monate nach Antritt der Ampel-Koalition deutlich, als der russische Angriff auf die Ukraine Deutschland unvorbereitet traf. Eineinhalb Jahre später gibt es nun noch immer keine Strategie. Vergangene Woche sollte das Werk im Kabinett beschlossen und dann im Bundestag beraten werden. Doch das Vorhaben wurde vertagt.
Das Problem
Experten wie Ulrich Schlie, der an der Universität Bonn den einzigen Lehrstuhl Deutschlands für Strategieforschung in der Außen- und Sicherheitspolitik innehat, halten die strategische Leerstelle inzwischen für ein Problem. Es sei zwar nicht so, dass Deutschland sich in der Vergangenheit gar nicht mit der Frage beschäftigt hätte, wie es in Fragen des Katastrophenschutzes, der Verteidigung und der Cyberabwehr aufgestellt sei. Seit 1969 gibt es sogenannte Weißbücher zur Sicherheitspolitik, die vom Bundesverteidigungsministerium erstellt werden. Das letzte erschien im Jahr 2016, ist also nicht mehr besonders aktuell. „Außerdem war das Weißbuch immer mehr eine Lagebeschreibung als eine Strategie, welche Ziele Deutschland sicherheitspolitisch verfolgt und wie es diese umzusetzen gedenkt.“ Die Veränderungen der Kräfteverhältnisse in der Welt machten hier dringend neue und vor allem klare Antworten notwendig.
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Die Praxis
Was theoretisch klingt, ist praktische Politik– gut zu sehen am Beispiel China. Wie Deutschland künftig mit dem großen Handelspartner und gleichzeitigen Rivalen umgehen möchte, ist bisher nicht definiert. Eher konfrontativ, wie Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem jüngsten Besuch in Peking? Oder verbindlich, wie Kanzler Olaf Scholz bei seinem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten im vergangenen Jahr? Aus Sicht von Schlie könne man die Bedeutung einer sicherheitspolitischen Strategie gar nicht überschätzen.
Der Inhalt
In dem Papier müsste etwa bestimmt werden, welche Rolle Deutschland künftig in der Nato übernehmen will. Oder welche Position es in der hochaktuellen Taiwan-Frage vertreten will. Nicht zuletzt müssten sicherheitspolitische Abstimmungsprozesse für den Katastrophenfall klar geregelt sein. „Zu so einer Katastrophe wie im Ahrtal 2021 darf es nie wieder kommen. In so einem Fall muss sofort ein klar abgestimmtes Handeln einsetzen.“ Der Experte formuliert deshalb einen klaren Anspruch an die Strategie: „Jeder Satz darin muss klar sein und sitzen.“
Die Akteure
Aber wenn die Strategie so dringend benötigt wird – warum kommt sie dann nicht? Die kurze Antwort ist: Weil zu viele dabei mitreden wollen. Federführend ist das Auswärtige Amt von Annalena Baerbock, womit das Problem aus Sicht von Ulrich Schlie schon anfängt. „Für das Bundesverteidigungsministerium, das für Sicherheitspolitik eigentlich zuständig sein müsste, ist das sicherlich ein sehr weitreichendes Zugeständnis“, meint er. Und vermutet, dass die Strategie wegen „Ressort-Egoismen“ auf sich warten lässt. Er befürchtet zudem, dass sie am Ende unkonkret und wenig hilfreich werden könnte.
Die Aufgabenstellung
Dabei brauchte die „Zeitenwende“, die mit einem krassen Kurswechsel Deutschlands in der Sicherheitspolitik einherging, dringend einen großen Plan dahinter. „Wir machen eine komplett neue Politik, liefern in großem Umfang Waffen in Kriegsgebiete, aber haben keinen Plan, wie wir uns künftig in ähnlichen Situationen verhalten wollen“, mahnt Schlie. „Würden wir dann künftig auch in gleicher Weise Länder wie Moldau oder Länder im arabischen Raum unterstützen?“
Außenministerin Baerbock hatte im März 2022 die Aufgabenstellung so formuliert: „Im Lichte von Russlands massivem Bruch mit unserer Friedensordnung müssen wir die Prinzipien, die uns leiten, noch klarer in praktische Politik umsetzen.“ Entscheidend seien eine klare Haltung, eine gestärkte Handlungsfähigkeit, und „geschärfte außen- und sicherheitspolitische Instrumente“.
Die Vorlage
Wie viel von diesem Anspruch übrig bleibt, wird die Vorlage zeigen, die nun im Juni im Bundeskabinett beschlossen werden soll. Nachdem sich die Bundesländer, originär für die Gefahrenabwehr zuständig, viele Staatssekretärsrunden und Ministerialbeamte darüber gebeugt haben, soll vom ursprünglich geplanten großen Wurf nicht mehr allzu viel übrig sein, berichtet die FAZ. Schlie meint: „Das wäre eine verpasste Chance in einer Zeit, in der wir uns das Verpassen von Chancen nicht leisten können.“
Expertengremium im Bundestag
Im Zuge der Erstellung der nationalen Sicherheitsstrategie war auch ein Nationaler Sicherheitsrat nach Vorbild der USA im Gespräch. Doch die Idee setzte sich nicht durch. Als Ersatz hat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD), ein Expertengremium beim Bundestag gefordert. Dieses „würde den Bundestag als zentrales Forum für außen- und sicherheitspolitische Debatten weiter stärken und die notwendige Expertise beisteuern, um künftig weitsichtigere Entscheidungen treffen zu können“, sagte Roth. (afp)