Eine Studie der RWTH Aachen widerspricht dem Mythos vom billigen russischen Gas als Wohlstandsfaktor für Deutschland.
Studie aus AachenWohlstand durch billiges Russen-Gas ist ein Mythos
Sahra Wagenknecht wird in Reden und Interviews nicht müde, einen Wechsel in der Energiepolitik zu verlangen. Ein Bestandteil: Deutschland solle wieder Gas aus Russland beziehen. Gas solle nach dem Gas nach dem „Kriterium des günstigsten Preises“ eingekauft werden, so die Gründerin des BSW vor gut einer Woche in einem Interview des Bayerischen Rundfunks.
Sie ist nicht die Einzige, die betont, dass russisches Gas billig war und ist. Vielfach ist sogar die These zu hören, dass der preiswerte Energiebezug aus Russland große Bedeutung für Deutschlands Wirtschaftskraft und Wohlstand gehabt habe. Prof. Hans-Wilhelm Schiffer, Mitglied im Studies Committee des World Energy Council und Lehrbeauftragter an der RWTH Aachen, setzt da ein deutliches Fragezeichen.
Das Ergebnis einer Studie, die er mit Andreas Seeliger, Dozent für Energietechnik und Energiemanagement an der Hochschule Niederrhein, angefertigt hat: Russisches Gas wurde zu Marktpreisen verkauft, in etwa auf dem Niveau von Gas aus Norwegen oder den Niederlanden. Schiffer wirft im Gespräch mit der Rundschau einen weiten Blick zurück.
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Erdgas sollte ab den 1970er Jahren die Abhängigkeit vom Öl senken. Große Vorkommen gab es nicht nur in Russland, sie wurden auch in den Niederlanden und Norwegen erschlossen. Langfristige Beschaffungsverträge zwischen Produzenten und Importeuren sollten den Aufbau der Infrastruktur ermöglichen, so Schiffer. Und da ein eigenständiger Gasmarkt nicht existierte, wurden die Preise an Öl angelehnt.
Gaspreis war an Öl gekoppelt
Komplexe Formeln in den Verträgen sorgten dafür, dass die Erdgaspreise denen von leichtem und schwerem Heizöl folgten. „Nach Auskunft aus der Branche bewegten sich die ölindexierten Gaspreise von Gazprom auf vergleichbarem Niveau wie die Preise für den Bezug von norwegischem und niederländischem Erdgas“, so Schiffer.
Zwar seien die europäischen Gasmärkte Ende der 1990er Jahre auf Initiative der EU-Kommission liberalisiert worden. Und Langfristverträge mit Ölbindung seien in Frage gestellt worden wurden, weil die Preise auf den wettbewerblich organisierten europäischen Handelsmärkten für die meist deutlich kurzfristigeren Laufzeiten unter das Niveau der ölindexierten Langfristverträge gefallen waren, so Schiffer. Verträge mit Norwegen mit Ölpreisbindung seien aufgelöst worden, was sich später als Fehler erwiesen habe. Bestehende Langfristverträge mit Gazprom seien aufrechterhalten, aber marktgerecht umgestaltet worden. „Ein Preis-Dumping seitens Gazprom hat es nach Aussagen von Marktteilnehmern nicht gegeben.“
Schiffer verweist auf Notierungen an den Erdgas-Spot- und Terminmarkten. Für den Zeitraum von 2011 bis 2021 ergibt sich für den wichtigen europäischen Handelsmarkt TTF eine durchschnittliche Notierung von 2,157 Cent pro Kilowattstunde. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) hat für den Zeitraum Durchschnittspreise frei deutscher Grenze für alle Lieferungen – einschließlich des hohen Anteils russischen Pipelinegases – von 2,101 Cent pro Kilowattstunde ermittelt. Schiffer schließt daraus, dass eine schrittweise verstärkte LNG-Versorgung statt einer Ausweitung des Pipeline-Bezugs aus Russland die Kosten des Gasbezugs in Deutschland nicht signifikant erhöht hätte.
Sonderfaktoren sorgten dann in der zweiten Jahreshälfte 2021 für höhere Preise: Höhere Nachfrage nach dem Corona-Lockdown etwa, Störungen bei Gasfeldern in Europa, geringere LNG-Lieferungen aus den USA und ein niedriger Füllstand der deutschen Gasspeicher. Als Russland seit Beginn des Ukraine-Kriegs die Lieferungen gedrosselt habe, gab es einen Preisschub. „An den europäischen Handelspunkten erreichten die Notierungen zeitweise das 25-fache des Niveaus des Jahres 2020, der BAFA-Durchschnittspreis für August 2022 erreichte 14,85 Cent pro Kilowattstunde, das Zwölffache des Durchschnittswerts von 2020“, so Schiffer.
Seitdem haben sich die Preise deutlich beruhigt. Wichtigste Gründe waren die Verbrauchsrückgänge in der Industrie, der witterungsbedingt verminderte Heizenergiebedarf und verstärkte LNG-Lieferungen vor allem aus den USA, die über die in den Niederlanden und in Belgien bestehenden Importterminals nach Deutschland verbracht werden konnten. Ab Ende 2022 erfolgte die Inbetriebnahme von Erdgasterminals an deutschen Küsten für den direkten Import von LNG. Die Großhandelsmärkten für das Marktgebiet Deutschland beliefen sich im Jahresdurchschnitt 2023 auf 4,1 Cent/Kilowattstunde und für den Jahresdurchschnitt 2024 auf 3,5 Cent pro Kilowattstunde. Für künftige Lieferungen, etwa im Jahr 2028, bestehen Bezugsmöglichkeiten zu etwa 2,8 Cent pro Kilowattstunde.
Schiffer hat ein weiteres Argument gegen die einfache Formel, dass billige Energie aus Russland zum Wohlstand in Deutschland geführt habe. Erdgas habe 2024 ein Viertel des Primärenergiebedarfs in Deutschland gedeckt. Davon wiederum gingen 36,7 Prozent oder 300,7 Milliarden Kilowattstunden an die Industrie, inklusive des Bedarfs von Industriekraftwerke und des Einsatzes von Erdgas als Rohstoff.
2023 habe die Industrie für eine Bruttowertschöpfung in Deutschland von 775,8 Milliarden Euro gesorgt. Der Importwert des Erdgases für die Industrie habe bei rund zehn Milliarden gelegen. „Der so für 2023 ermittelte Anteil der Industrie am Importwert des Erdgases entspricht 1,3 Prozent der gesamten Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes“, so Schiffer.
Für einige Branchen habe Erdgas aber eine größere Bedeutung. Weil Zahlen zu den Kosten für Erdgas am Bruttoproduktionswert der Industrie nach Branchen nicht verfügbar sind, verweist Schiffer auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus einer Sonderauswertung von 2021 – neuere Zahlen liegen nicht vor – zu den gesamten Energiekosten.
Demnach erreichte der Anteil der Energiekosten am Bruttoproduktionswert bei den Herstellern von chemischen Grundstoffen wie BASF in Ludwigshafen, Düngemitteln sowie Kunststoffen und Kautschuk in Primärform ein Anteil von 6,9 Prozent. Der Anteil bei den Herstellern von Spezialchemikalien wie etwa Lanxess gilt als niedriger. Der Durchschnittswert für die Industrie insgesamt liegt laut Schiffer bei 1,9 Prozent.
Gas ist in den USA deutlich billiger
Freilich, so Schiffer, waren die Erdgaskosten in Deutschland und den anderen Staaten Europas auch vor der Krise des Jahres 2022 deutlich höher als in den USA, wo am maßgeblichen Henry-Hub weniger als die Hälfte für Erdgas bezahlt werden musste. 2022 habe sich die Preis-Schere weiter geöffnet. „Für das Ausmaß der dadurch verursachten Belastungen ist auch die zuvor eingegangene hohe Abhängigkeit von Erdgaslieferungen aus Russland verantwortlich“, so Schiffer. Bei breiter Streuung der Energie- und Lieferquellen wären die Ausschläge moderater ausgefallen.
Die in der öffentlichen Diskussion vielfach betonte Bedeutung der russischen Erdgaslieferungen für Wirtschaftskraft und Wohlstand in Deutschland wird laut Schiffer weit überschätzt. Hohe Lohnkosten, hohe Unternehmenssteuern, hohe Regulierungsdichte, vernachlässigte Infrastruktur, überbordende Bürokratie, Vorgaben für die Nutzung beziehungsweise den Ausschluss bestimmter Technologien sowie mit hohen Abgaben und Umlagen belastete Energiepreise hätten für ungünstige Standortbedingungen gesorgt. Die Preisexplosion beim Gas einschließlich der Auswirkungen auf die Strompreise habe dann das Fass zum Überlaufen gebracht.