AboAbonnieren

Gewaltige BaustelleShell-Raffinerie in Wesseling wird runderneuert

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt

Die Shell-Anlage in Wesseling.

Wesseling – Der Herr des Stillstands steht nie still. Rund 15 Kilometer legt der Mann mit dem flotten Gang und dem Borussia-Dortmund-Wappen auf dem Helm jeden Tag zu Fuß zurück. Seine Aufgaben: Kontrollieren, Überwachen, Fehler finden, beseitigen und Abläufe verbessern. „Ich entdecke immer was“, sagt er. André Nussbaum ist Stillstands-Manager bei Shell. Internationaler ausgedrückt: Turnaround-Manager.

Aktuell hat er gut zu tun, denn im Shell Energy and Chemicals Park in Wesseling, der ehemaligen Rheinland-Raffinerie, herrscht nicht nur Stillstand, sondern Großstillstand – auch Turnaround genannt. Wo sonst auf einer Fläche von rund 14 Fußballfeldern Rohöl weiterverarbeitet wird, ist keine Anlage mehr in Betrieb. Still und verlassen ist es bei so einem Stillstand aber nicht. Es ist sogar ziemlich laut und voll.

1500 Seiten Terminplan für Umbau

Denn innerhalb von 45 Tagen bringen hier täglich 2700 Arbeiter aus ganz Europa alles auf Vordermann, wechseln rund 250.000 Schrauben und ähnlich viele Dichtungen aus und versetzen die Anlagen wieder in Hochglanz – so gut das eben möglich ist, wenn Öl im Spiel ist. Ein 1500 Seiten langer Terminplan setzt den Rahmen für rund 65 000 einzelne Arbeitsschritte – zum großen Teil vorgeschriebene Instandsetzungs- und Wartungsarbeiten. Kleinere Stillstände gibt es häufiger, so ein großer wie jetzt findet alle fünf Jahre statt. Planungszeit: drei Jahre.

Einfach so arbeiten darf hier niemand. Die vierstündige Einweisung im Safety Center in Köln-Godorf ist Pflicht, genauso wie eine spezielle Turnaround-Einführung. Zu guter Letzt folgen firmenspezifische Einweisungen. Die Sicherheitsschulung gibt es in neun Sprachen. Häufigste Verletzungen entstehen durch nach unten fallende Gegenstände, Handverletzungen, durch Stolpern oder Ausrutschen.

52 Großkräne sind im Einsatz

Auch aus der Höhe von acht Gerüststockwerken lässt sich nur annähernd überblicken, was hier eigentlich los ist. Noch höher ist von hier aus mit 67 Metern nur die Trennkolonne, in der das Rohöl in seine Bestandteile zerlegt wird. Schon ein Dreivierteljahr vor Beginn des Stillstands haben Spezialisten damit begonnen, ein Gerüst dafür aufzubauen. Unten wuseln bunte Helme wie Ameisen hin und her – Schlosser, Schweißer, Isolierer, dazu kommen 52 Großkräne.

Jeder Gang, jeder Handgriff folgt einem Plan, auch wenn das nicht immer so aussieht. Drei Männer sichern einen Kollegen für Putzarbeiten in einem engen Schacht ab, ein Sicherheitsposten überwacht die Situation. Passiert etwas, holt er Hilfe. Bricht ein Brand aus, ist die Betriebsfeuerwehr innerhalb von zwei Minuten da.

In der Benzinentschwefelungsanlage herrscht plötzlich leichte Aufregung. Aus einem Bauteil sei eine Flüssigkeit ausgetreten, berichtet ein junger Mann. Vielleicht Öl. Das wäre kein gutes Zeichen. Eine der wichtigsten Regeln: Im Zweifelsfall die Arbeit unterbrechen und die Ursache finden. Dann kommen die Männer mit den roten Helmen ins Spiel. Sie arbeiten hier, wenn gerade kein Stillstand herrscht, kennen die Anlagen besser als alle Fachfirmen und sind genau für solche Fälle in der Nähe. Ein Blick reicht: „Ist nur Wasser, kein Problem“, sagt der Mann. Grünes Licht. Weiter geht’s.

Shell legt extra Verkehrskonzept für Baustelle vor

Ein wichtiger Ort für den Turnaround ist der sogenannte Waschplatz. Hier landen alle Bauteile, die nicht ersetzt werden. Gerade sind das vor allem viele sogenannte Wärmetauscherbündel. Wer seine Terrasse schon mal mit einem Hochdruckreiniger gesäubert hat, der weiß, was so ein Gerät mit etwa 150 Bar schon alles leisten kann. In Wesseling ist mit 150 Bar allerdings nicht viel zu holen. Deswegen heißt der Hochdruckreiniger in Wesseling auch nicht Hochdruckreiniger, sondern Pipe Jet und hat statt 150 Bar gleich stolze 2000 im Gepäck. „Wenn da ’ne Hand im Weg ist, ist die ab“, sagt Nussbaum, der studierter Verfahrenstechniker ist.

Jeder, der hier arbeitet, soll sich wohl fühlen. Dazu gehört, dass er morgens nicht im Stau steht, gute Umkleidemöglichkeiten hat, mittags eine gehaltvolle Mahlzeit und nach getaner Arbeit eine warme Dusche bekommt. „Wenn da etwas nicht passt“, sagt Nussbaum, „dann haben die Leute auch keinen Bock, Höchstleistungen zu erbringen.“

Um all das zu gewährleisten, hat Shell in Wesseling ein spezielles Verkehrskonzept erarbeitet, Extra-Parkplätze eingerichtet und eine ganze Container-Kleinstadt mit Umkleiden und Duschen aufgebaut. In einem 1000 Quadratmeter großen Zelt versorgt ein Caterer aus dem Münsterland die Arbeiter. 2000 Mahlzeiten innerhalb von anderthalb Stunden gehen hier maximal über die Theke. Heute auf dem Speiseplan: Königsberger Klopse oder Hähnchencurry.

Lebensrettende Regeln

Der Turnaround-Manager hat für alle Kollegen ein offenes Ohr, nimmt sich Zeit, hier eine kurze Plauderei, da ein kollegiales Schulterklopfen. Wenn es sein muss, kann er auch anders. Wenn ein Arbeiter seine Jacke nicht bis oben zuzieht, wenn die Schutzbrille oder die Handschuhe fehlen, greift er ein. Meistens ist das aber gar nicht notwendig. „Wenn die mich sehen, wissen sie eigentlich schon Bescheid.“

Sicherheit hat auf dem gesamten Gelände oberste Priorität. Das Goal Zero steht dabei über allem. Während des gesamten Turnarounds soll es keine Vorfälle, keine Unfälle geben. In diesem Stillstand hat das nicht geklappt. An Tag Drei kam es zu einem kleineren Vorfall, bei dem ein Arbeiter mit Öl benetzt wurde. Immerhin: Dem Mann geht es schon wieder gut.

Die Life Saving Rules, die lebensrettenden Regeln – zum Beispiel das Absichern bei Arbeiten in großer Höhe oder das Alkohol- und Drogenverbot – hat dagegen noch niemand verletzt. Als Ansporn, dass das auch so bleibt, dienen die Preise in der Kantine. Noch kostet ein Gericht über drei Euro, doch mit jeder Woche ohne Verstoß sinkt der Preis – für alle oder für keinen.

Das könnte Sie auch interessieren:

So komplex der Stillstand in seiner Gesamtheit wirkt, umso wichtiger ist es, dass jeder einzelne Schritt so einfach wie möglich zu verstehen ist. Wer ein Bauteil nach der Reinigung prüft, markiert es mit einem grünen oder roten Kabelbinder. Jeder Arbeitsschritt und jeder Kabelbinder ist aber auch digital hinterlegt. Genauso unmissverständlich ist auch die Beschreibung jedes Einzelteils. Wer den Code entschlüsseln kann weiß genau, wo das Element hingehört.

„Der Job macht mir auch nach so vielen Jahren noch Spaß“, sagt Nussbaum, der schon 52 Stillstände mitgemacht hat. „Wenn nach drei Jahren Planung alles so funktioniert, wie man sich das vorstellt, dann setzt das jede Menge positive Energie frei.“ Noch ist viel zu tun in Wesseling, aber alles läuft nach Zeitplan. Und wenn Anfang Oktober alles vorbei ist, die Gerüste verschwinden und die Fachkräfte weiterziehen, starten die Planungen für den nächsten Stillstand. Nach dem Turnaround ist vor dem Turnaround.