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Mehr Kann als MussSchweden kommt bislang ohne Maskenpflicht durch die Pandemie

Lesezeit 5 Minuten
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Neue Leere: In den Stationen der schwedischen Metro „Central“ sind auch werktags nur wenige Menschen unterwegs.

  1. Auf den ersten Blick hat das Corona-Virus im Alltag der Schweden kaum sichtbare Spuren hinterlassen.
  2. Guckt man sich Zahlen an, sieht es aber deutlich anders aus.
  3. Die Todesrate liegt mit rund sechs Prozent der Infizierten doppelt so hoch wie in Deutschland.

Stockholm – Ein bisschen fühlt man sich wie in eine andere Zeit zurückversetzt: Trauben Jugendlicher schieben sich in den frühen Abendstunden die günstige Ausgehmeile Götgatan in Stockholms Stadtteil Slussen entlang. Das Wetter ist mild für Oktober. Die Clubs sind geschlossen. Aber Restaurants und Bars sind voll. Viele umarmen sich, klatschen sich ab.

Eine Maske trägt niemand hier draußen. Auch in der Metro, deren grüne Linie von Slussen aus durch die Altstadt zur Centralstation verkehrt, ist Mundschutz eine Seltenheit. Dafür sind die Züge selbst in der Rushhour am folgenden Freitagmorgen kaum gefüllt.

Auf den ersten Blick hat das Corona-Virus im Alltag der Schweden kaum sichtbare Spuren hinterlassen. Guckt man sich Zahlen an, sieht es aber deutlich anders aus: Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität waren in Schweden am Dienstag 97 532 Infektionen mit Covid-19 bekannt. Das entspricht etwa einem Prozent der Gesamtbevölkerung von rund 10,3 Millionen Einwohnern.

Todesrate ist doppelt so hoch wie in Deutschland

Auch bei einer mehrfach höheren Dunkelziffer ist das Land von der angestrebten „Herdenimmunität“ weit entfernt. Diese läge bei mindestens 60 Prozent Virenträgern. 5892 Menschen sind an oder mit dem Virus gestorben. Die Todesrate liegt mit rund sechs Prozent der Infizierten damit doppelt so hoch wie in Deutschland.

Die Regierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven hatte die Eindämmung der Pandemie überwiegend einem Expertengremium um den Arzt Anders Tegnell von der Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten überlassen. Tegnell hat einen radikalen Lockdown wie im Rest Europas stets abgelehnt. Anders als häufig kolportiert, hat er aber durchaus reagiert.

Besuchsverbot in Pflegeheimen

Nachdem die Infektion von 250 Senioren in Stockholmer Altersheimen bekannt wurde, bestand vom 1. April bis zum 1. Oktober ein Besuchsverbot in Pflegeheimen. Für Bewohner und Personal wurde eine intensive Testkampagne gestartet. Außerdem wurden öffentliche Veranstaltungen ebenso wie private Feiern auf 50 Personen begrenzt. Das gilt bis heute.

Gymnasien und Hochschulen stellten zeitweise auf digitalen Unterricht um. Eine Mundschutzpflicht im öffentlichen Leben, Adresssammlungen bei Restaurantbesuchen oder andere Eingriffe in die persönliche Freiheit hat man nie umgesetzt. Stattdessen gab es Empfehlungen: Wer kann, soll von zu Hause arbeiten, Bus und Bahn nur im Bedarfsfall nutzen und der Urlaub sollte möglichst wohnortnah verbracht werden, um das Gesundheitswesen im ländlichen Raum nicht zu überfordern.

Eine Überlastung der Kliniken gab es zu keiner Zeit

Nach einem rapiden Anstieg der Infektionszahlen im April und deutlich ausgeweiteten Tests ab Juni erreichte die Ansteckungsrate ein Maximum von 67 Neuinfektionen pro Woche je 100 000 Einwohner. Eine Überlastung der Kliniken gab es zu keiner Zeit. Am Ende werde man sehen, ob eine nachhaltige Strategie nicht besser sei „anstatt einer, wo man immer und immer wieder zusperrt, aufmacht und wieder zusperrt“, sagte Tegnell dem Sender France-24.

Erst seit Mitte September steigen die Fallzahlen in Schweden wieder leicht an. Für den Herbst und Winter erwägen die Verantwortlichen nun zumindest lokale Restriktionen. Konrad Tyrsen hätte die Pandemie trotzdem fast die Existenz gekostet. Zum Jahresanfang war der 36-Jährige mit seiner nachhaltig orientierten Bäckerei in den Außenbezirk Hökarängen gezogen.

Die Pandemie ist für viele Unternehmen existenzgefährdend

In normalen Zeiten formen und backen 43 Angestellte hier von Hand rund um die Uhr Brot und Zimtschnecken für die großen Hotels und Restaurants in der Stadt. „Aber nachdem viele davon im Frühjahr und Sommer geschlossen blieben, haben uns nur die Nachbarn gerettet“, sagt Tyrsen.Erst kauften sie Brot. Dann kamen sie ins angeschlossene Café mit Blick in die Backstube. Inzwischen reicht die Schlange der Wartenden am Wochenende über den Vorplatz bis zur Straße.

„Für viele Betriebe ist die Pandemie aber existenzgefährdend“, berichtet Birgitta Palmér von Visit Stockholm. Im Freizeitpark Grona Lund am Hafen von Stockholm ratterte keine Achterbahn. Auch „Astrid Lindgrens Welt“ südlich Stockholms musste zusperren, weil die Gesundheitsbehörden die Zuschauer vor den verschiedenen Bühnen zusammenzählten. 300 Anläufe von Kreuzfahrtschiffen wurden abgesagt – für Stockholm ein Minus von mindestens einer Million Besuchern.

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Abstand mit Humor: ein Plakat vor dem Freilichtmuseum Skansen.

„Wir hatten auf innerschwedischen Tourismus gesetzt. Aber aufgegangen ist das in Stockholm nicht“, sagt Palmér. Hunderte junge Leute fanden so keinen Einstiegsjob. Die Quote arbeitsloser Jugendlicher bis 24 Jahren stieg im Sommer nach Angaben des nationalen Statistikamtes SCB auf 28,9 Prozent – zehn Prozent mehr als im Vorjahr.

Zwar fiel der wirtschaftliche Einbruch im Vergleich zum Rest Europas insgesamt geringer aus. Das staatliche Konjunkturinstitut rechnet für 2020 derzeit mit einem Minus von 3,4 Prozent. Zum Vergleich: Die Wirtschaftsweisen rechnen für Deutschland mit 6,4 Prozent. Viele Unternehmen im Norden bauten aber trotzdem vorsorglich Personal ab. Homeoffice hingegen war für die Schweden keine Innovation. Das machen viele außerhalb der großen Städte schon seit vielen Jahren.

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Gut 1200 Kilometer nördlich der Hauptstadt liegt am Ende einer Straße das Samen-Dorf Nikkaluokta. Vor allem Wanderer kommen hierher, um Schwedens höchsten Gipfel Kebenekaise zu besteigen. Vor fast jeder Gästehütte steht ein Auto mit auswärtigem Kennzeichen. Die 30 Einwohner sehen das wie andernorts auf dem Land mit gemischten Gefühlen. Einerseits bringen die Fremden Geld ins Dorf, andererseits auch eine gewisse Ansteckungsgefahr.

Die nächste Klinik mit einer Intensivstation für Corona-Infizierte gibt es erst nach einer Autostunde in der Bergwerksstadt Kiruna. In den Gästehütten muss deshalb zur Sicherheit jeder sein Bett selbst beziehen. Das Frühstück gibt es vorverpackt in einer Plastikwanne zum Mitnehmen. Und das einzige Restaurant schließt um 19 Uhr. Aber draußen im Fjäll ist die Pandemie naturgemäß kein Thema.