80 Jahre danach birgt der Volksbund jährlich noch immer tausende deutsche Weltkriegstote, vor allem auf dem Gebiet der Ukraine
KriegsgräberfürsorgeNoch immer ruhen Millionen deutscher Gefallener in fremder Erde

Grabkreuze stehen am Kriegsgräber Denkmal auf dem Alten Friedhof. (Symbobild)
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Fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ruhen noch immer Millionen deutscher Gefallene in fremder Erde. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge spürt sie auf, gibt ihnen ihre Identität zurück und bettet sie würdig um. Im Interview mit Finja Jaquet erklärt Präsident Wolfgang Schneiderhan, welche Bedeutung das für die Versöhnung zwischen den Völkern hat.
Millionen deutsche Soldaten, die vor 80 Jahren den Krieg in die Welt trugen, gelten bis heute als verschollen. Wie groß ist das Bedürfnis, heute noch zu erfahren, was aus ihnen wurde?
Das ist nach wie vor ein Thema: Es gibt fast keine Familie, in der nicht irgendjemand fehlt. Wir sprechen von mehr als 20.000 Anfragen pro Jahr von Menschen, die ihre vermissten Angehörigen suchen. Dann sind da noch diejenigen, die in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gekommen sind und deren Schicksal wir noch klären müssen. Das Thema ist erst vor ein paar Jahren angestoßen worden, als die damaligen Außenminister Russlands und Deutschlands 2016 ein entsprechendes Abkommen getroffen haben. Doch dann kam der Krieg gegen die Ukraine dazwischen – die Arbeit ruht derzeit. Ohne Ansprechpartner vor Ort können wir leider nicht weitermachen.
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Inwieweit erschwert der russische Angriff auf die Ukraine ihre Arbeit?
Die Arbeit geht dennoch weiter, wo es möglich ist: Wir haben letztes Jahr in Russland rund 4500 Tote geborgen. In der Ukraine waren es knapp 1700 in den Gebieten, in denen nicht gekämpft wird. Unser Büro in Kiew ist derzeit geschlossen, die Arbeit geschieht jetzt gesteuert von hier aus. Ich freue mich aber, noch immer ein Büro in Moskau betreiben zu können – der Vertrag wurde im letzten Jahr verlängert. Weite Teile der Bevölkerung dort unterstützen unsere Arbeit und geben Hinweise, wo wir noch nach Toten suchen könnten.
Heute wird auf den Schlachtfeldern von damals teils wieder gekämpft.
Das ist ein Wahnsinn, den man kaum begreifen kann: Das Tragische in der Ukraine ist – auch wenn es kleine Zahlen sind –, dass ukrainische Soldaten heute Schützengräben ausheben und dabei einen gefallenen deutschen Soldaten finden, der 80 Jahre zuvor dort gekämpft hat. Es sind die gleichen Orte, in denen der Krieg damals getobt hat. Eine schreckliche, absurde Situation, die aber deutlich macht, wie wichtig unsere Arbeit nach wie vor ist.
Ein großer Teil dieser Arbeit besteht darin, die Toten überhaupt ausfindig zu machen. Wie kann man sich das genau vorstellen?
Zunächst einmal ist die Aktenlage und die Dokumentation des Kriegsgeschehens in Deutschland gut. Bei jeder Einheit, das ist heute bei der Bundeswehr auch so, gibt es ein sogenanntes Kriegstagebuch. Wir wissen daher heute noch, wo und wann welche Schlachten geführt wurden. Dies erleichtert das gezielte Suchen in den Kriegsgebieten von damals. Außerdem erhalten wir Hinweise, zum Beispiel von älteren Frauen und Männern, die sich noch erinnern und uns sagen können, wo noch Gefallene liegen könnten. Oder es sind Zufallsfunde: bei Bauarbeiten, im Straßenbau, bei verschiedenen Gelegenheiten.
Wie geht es dann weiter, wie finden Sie nach so vielen Jahren heraus, um wen es sich handelt?
Da gibt es verschiedene Möglichkeiten – auch wenn es hier nicht der Alltag ist, geht es heutzutage bis hin zur DNA-Analyse. Alle deutschen Soldaten haben eine Erkennungsmarke aus Blech, die in der Mitte perforiert ist. Der untere Teil der Marke wurde abgebrochen, der andere blieb dem Soldaten an der Kette um den Hals hängen. Nehmen wir an, die Marke fehlt: Dann gibt es noch Beifunde wie Uniformreste, Eheringe, persönliche Gegenstände. Viel sagt auch das Umbettungsprotokoll aus, das erstellt wird. Am Gebiss kann man viel erkennen, auch alte Verletzungen oder Knochenbrüche, die beim Militärarzt dokumentiert wurden und über die man den Toten identifizieren kann. Außerdem hilft auch hier die umfassende Dokumentation des Krieges: Wir wissen, wer in welcher Einheit und in welchem Bataillon gedient hat und dementsprechend im Einsatz war. So kann man auch darüber darauf schließen, wer möglicherweise vor einem liegt.
Sie bestatten die Menschen, die für ein verbrecherisches Regime gekämpft haben, dann erneut und in Würde. Das führt immer wieder auch zu Kritik...
Die Kritik entzündet sich vielfach daran, dass auf unseren Friedhöfen auch Menschen liegen, von denen ich mir gewünscht hätte, dass sie zuerst vor einen irdischen Richter kommen. Männer, die schlimmste Verbrechen begangen und unermessliches Leid über zahllose Menschen gebracht haben. Dazu bekennen wir uns und wenn wir davon wissen, sagen wir das auch. Aber bei 2,8 Millionen Gräbern in unserer Obhut können wir nicht immer wissen, wer da was getan hat.
Wie finanzieren Sie die Arbeit in Zeiten knapper Kassen? Droht den Kriegsgräberstätten vielleicht sogar der Verfall?
Wir erhalten eine Förderung durch das Auswärtige Amt, die seit Jahren gleichgeblieben ist. Allerdings sind die Kosten gestiegen. Gleichzeitig gehen die Spendeneinnahmen zurück. Das sorgt für einen Instandsetzungsstau auf unseren Kriegsgräberstätten. Einerseits ist es schön, dass so viele Kriegsgräberstätten aus dem Ersten Weltkrieg Unesco-Weltkulturerbe geworden sind. Andererseits haben wir nicht die Mittel, sie zu pflegen, wie wir gerne möchten, sodass einzelne Stätten zu verfallen drohen.
Welche Rolle spielt für Sie die Arbeit an der Versöhnung mit den früheren Kriegsgegnern?
Unsere Aufgabe ist, die Kriegstoten zu finden, zu identifizieren und würdig zu bestatten. Das ist für sich schon eine große Versöhnungsleistung vieler Länder, denn wir bestatten die gefallenen Soldaten in der Erde, die sie damals mit Blut getränkt haben. Und es ist eine beeindruckende Geste dieser Länder, dass sie uns dies erlauben – mit ewigem Ruherecht. Wir haben Kriegsgräberabkommen mit 45 Ländern, dafür sind wir sehr dankbar.
Wie hat sich die Arbeit des Volksbunds in den 80 Jahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa verändert?
Verändert hat sich sicherlich, dass es immer schwieriger wird, den zeitlichen Abstand zu bewältigen. Die Betroffenheit herzustellen, die eben auch in den Familien nachlässt, wenn im Grunde nur noch die Oma erzählen kann, dass da einer fehlt an Weihnachten. Welches Leid Krieg wirklich bedeutet, verschwimmt mit der Zeit. Mitunter bin ich in Schulklassen zu Gast und sage den Kindern dann: Ich kann euch nicht erzählen, was Krieg bedeutet, aber ihr habt doch bestimmt Geflüchtete aus der Ukraine im Ort. Redet doch mal mit denen. Es muss uns im Bewusstsein bleiben, dass mitten in Europa ein Krieg tobt.
Neben der Versöhnungsarbeit: Was bleibt für Ihre Organisation so viele Jahre nach Ende des Krieges zu tun?
Es gibt noch ungefähr zwei Millionen deutsche Kriegstote in Osteuropa. Und das Bergen ist ja nur das eine: der Lehrauftrag für Frieden und Demokratie, das Gedenken, das Erinnern, das bleibt ja unabhängig davon unser Auftrag. Manch einer hält uns für eine größere Friedhofsgärtnerei, aber unsere Arbeit umfasst viel mehr und ist so aktuell wie eh und je.