AboAbonnieren

„Früher war es auch schon heiß“Warum Erinnerungen an warme Sommer trügen

Lesezeit 4 Minuten
Dürre 310722

Ein ausgetrockneter Fischteich in Brandenburg.

Berlin – „In meiner Kindheit gab es nur solche Sommer“, sagt die Tante bei Kaffee und Kuchen. „Auch früher hatten wir schon hitzefrei“, pflichtet womöglich ihr Sohn bei. Heute aber, so die Klage, werde um die hohen Temperaturen ein übertriebenes Bohei gemacht und Panik geschürt. Willkommen im Sommer 2022! Spätestens jetzt ist das Small-Talk-Thema Wetter zum Politikum geworden.

Menschen, die sich ihrer Ansicht nach bis ins kleinste Detail der eigenen Sommer-Jugend erinnern können, spielen genauso wie Klimawandel-Leugner auf der Klaviatur nostalgischer Eindrücke. Teils viele Jahrzehnte später wollen sie noch genau vor Augen haben, wie sie angeblich wochenlang jedes Jahr bei hohen Temperaturen und stundenlangem Sonnenschein im Stadtbad verbracht hätten.

„In der Erinnerung bleiben vor allem persönliche Rekordmomente und Extreme“, sagt Meteorologe Andreas Friedrich vom Deutschen Wetterdienst (DWD). Besonders warme und sonnenreiche Sommer hielten sich eher im Gedächtnis als die regenreichen und kälteren. „Der Mensch erinnert sich eben statistisch nicht sauber“, stellt der Experte fest.

Sorgen um Kinder und Enkel

Mit Blick auf die Erderwärmung ist die häufigste Sorge der Gedanke an Kinder und Enkel. Fast drei Viertel der Deutschen (74 Prozent) haben Angst um die künftigen Generationen, wie aus einer Umfrage im Auftrag von „chrismon“ hervorgeht.

Die am zweithäufigsten genannte Sorge (58 Prozent) ist die Angst, selbst unter Wetterextremen wie Hitze, Dürre oder Hochwasser leiden zu müssen.

40 Prozent der Befragten haben Angst, „dass Lobbyisten wirklichen Klimaschutz verhindern“. 32 Prozent beunruhigt der Gedanke, sie könnten alleine nichts gegen die Erderwärmung tun. Knapp ein Viertel der Befragten hat Sorge, „dass Menschen klimabedingt zu uns fliehen“.

Nur 12 Prozent der Menschen treibt die Angst um, verzichten zu müssen, etwa auf Fleisch oder Flugreisen.

Das Meinungsforschungsinstitut Kantar Emnid hatte für die Erhebung im Auftrag des Magazins „chrismon“ insgesamt 1002 Menschen befragt. (epd)

Dass früher nicht alles eitel Sonnenschein war, zeigt schon das berühmte Lied von Rudi Carrell. Es muss ja einen Grund gegeben haben, warum der Entertainer im Mai 1975 sehnsüchtig trällerte, wann es denn mal wieder richtig Sommer werde. Im August desselben Jahres ist es dann tatsächlich heiß: Es gibt eine Hitzewelle mit Temperaturen bis um die 35 Grad Celsius.

Einzelne Ereignisse

Aus solchen einzelnen Ereignissen kann man aber nicht ohne weiteres ableiten, früher sei es genauso heiß gewesen wie heute. Auch nicht aus Jahrzehnte alten Zeitungstiteln und Artikeln, die in sozialen Medien rauf und runter gepostet werden, und in denen damals über tatsächliche oder vermeintliche Rekordtemperaturen berichtet wurde.

„Ein einzelnes Extremereignis ist erstmal immer nur eine Manifestation von Wetter“, sagte Karsten Haustein vom Institut für Meteorologie an der Universität Leipzig dem Science Media Center. Dieses könne theoretisch unter vielen Klimabedingungen auftreten. „Was sich ändert, ist die Häufigkeit bestimmter Wetterlagen, wie Hitze- und Niederschlagsextreme.“

Es gibt immer mehr heiße Tage.

„Wetter und Klima werden oft durcheinandergebracht“, bemerkt auch Meteorologe Friedrich. Erst aus der Beobachtung des Wetters über einen längeren Zeitraum – etwa 30 Jahre – könne man Trends ablesen. Es gilt also: Ausschlaggebend sind die Daten, nicht das Gefühl.

Im Zeitraum 1991 bis 2020 war es im Juni DWD-Daten zufolge im Schnitt um ein Grad wärmer als im Zeitraum 1961 bis 1990. Der diesjährige außergewöhnlich warme, trockene und sonnenscheinreiche Juni lag mit 18,4 Grad sogar nochmal zwei Grad darüber. „Eine Hitzewelle, die ohne Klimawandel ein Jahrhundertereignis gewesen wäre, ist jetzt normaler Sommer“, sagt Friederike Otto vom Environmental Change Institute an der Universität in Oxford.

Schwellenwert 40 Grad

Eindrucksvoll zeigt sich das an einem Wert: 40 Grad Celsius. Diese Temperatur wurde erstmals 1983 an zwei Wetterstationen in Deutschland überschritten – gut 100 Jahre nach Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881. Das nächste Mal wurde die Marke 20 Jahre später im legendären „Jahrhundertsommer“ von 2003 geknackt. Nach weiteren zwölf Jahren wurden mehr als 40 Grad erneut im August 2015 an drei Stationen gemessen, vier Jahre später im Juli 2019 sogar an 25.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Abstände werden also kürzer: Nun sind nur drei Jahre vergangen, bis der Wert in diesem Juli wieder gerissen wurde. „In 20 Jahren wird womöglich in jedem Sommer irgendwo in Deutschland eine Temperatur von mehr als 40 Grad gemessen“, sagt Friedrich voraus. „Es wird immer wieder Rekordtemperaturen geben.“

Stimmen, die behaupten, Tage mit mehr als 40 Grad habe es früher auch schon häufig gegeben, bescheinigt DWD-Meteorologe Adrian Leyser „im besten Falle“ eine „verzerrte, subjektive Wahrnehmung“.

„In Europa wird die Anzahl der Hitzewellen in den kommenden Jahrzehnten weiter drastisch zunehmen“, sagt auch Klimaforscher Haustein. Die kurzen Phasen mit besonders starker Hitze im aktuellen Sommer und in früheren Jahren „sollten Warnung genug sein, uns rechtzeitig mit Anpassungsmaßnahmen zu befassen“. (dpa)