Keine Partys, kein KarnevalWarum Rheinländer besonders unter dem Lockdown leiden
Viktor Schmidt fühlt sich „irgendwie betrogen“. Erst gab es keine richtige Abifeier, dann keine „Ersti-Sause“ an der Uni. Der 24-jährige Sankt Augustiner hat sein Abitur am Abendgymnasium in Siegburg gemacht. Dass es danach keinen Ball gab, konnte er verkraften, weil er sowieso das Gefühl gehabt habe, dass er nur einen Schulabschluss gemacht habe, der längst überfällig gewesen sei. Aber nach all der Zeit des Lernens hätte er doch gerne „mal richtig die Sau rausgelassen, am liebsten mit Freunden auf Rock am Ring“. Aber Corona, dieses Miststück, macht alles zunichte, wie ein ewiger Nörgler, der hämisch jeden Spaß durchkreuzt.
„Ich hatte das Gefühl, als hätte man mich um das Recht gebracht, ausgiebig zu feiern“, sagt Schmidt, der an der Universität Bonn Kunstgeschichte und Anglistik studiert. Verspürt er Wut oder eher Selbstmitleid? „Es ist eher Frust und eine diffuse Art von Niedergeschlagenheit, die man gar nicht richtig fassen kann“, sagt Schmidt. Das Jahr 2020, das würde er am liebsten komplett überspringen. Irgendwie lief nämlich gar nichts.
Besonders enttäuschend erlebt er den Start des Studiums, auf den er sich so gefreut hatte. Präsenzveranstaltungen gibt es keine einzige, seit dem Teillockdown sind auch die letzten möglichen physischen Kontakte an der Uni gestrichen. Und leider habe die Uni überhaupt keine Konzepte für die Erstsemester – jedenfalls keine wirklich erkennbaren. „Das Onlineportal ist nicht gerade übersichtlich. Man muss als Studierender um alles kämpfen, jede Kontaktgruppe habe ich mir mühsam recherchiert“, sagt er.
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Und statt sich in der Kneipe oder der Uni zu treffen, bilden die Erstsemester WhatsApp-Gruppen – die zum Teil aus mehr als 300 Personen bestehen und „von den Fachschaften so einigermaßen moderiert werden“, sagt der 24-Jährige. Jetzt sitzt er teilweise bis zu zehn Stunden am Computer und nimmt an Vorlesungen und Seminaren teil. „Der Frust dabei ist real“, sagt Schmidt, der auch Gitarrist der preisgekrönten Bonner Band Attic ist. Immerhin, meint er, habe er jetzt mehr Zeit, um Musik zu schreiben. Aber ein echter Ersatz für gesellige Treffen sei das natürlich nicht.
Der Mensch ist ein soziales Wesen
Warum braucht der Mensch soziale Kontakte? „Weil er ein soziales Wesen ist und ohne Ansprache und ohne Nähe nicht überleben kann“, sagt der Bonner Bestseller-Autor und Psychotherapeut Manfred Lütz. Der Mensch sei nun mal ein kommunikatives Wesen. Und es stehe ja schon im Buch Genesis: „Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei.“ Der Religionsphilosoph Martin Buber habe darauf hingewiesen, dass der Mensch als erstes ein Du erlebt, zumeist das Du der Mutter, und dann erst merke er, dass da ein Ich ist, das dieses Du erlebt. Der Mensch sei sein Leben lang auf Mitmenschlichkeit angewiesen.Bernd Gelhausen kennen viele Bonner als „Mr. Music“. Der 62-Jährige ist aber nicht nur leidenschaftlicher Händler und Sammler von Schallplatten und CDs, er ist FC-Fan durch und durch. In seinem Haus in Niederkassel gibt es kaum etwas, was nicht den Geißbock des Kölner Fußballvereins ziert. Selbst seine Markise über der Terrasse ist eine Spezialanfertigung – im richtigen FC-Rot und mit Geißbock. Seit mindestens 15 Jahren habe er kaum ein Heimspiel seines Vereins verpasst, sagt der Mann, den alle nur als „Bernie“ kennen.
Für den Mann mit den langen, ergrauten Haaren ist FC-Fan sein „ein Lebensgefühl“ und die Tour zum Stadion Teil eines Rituals, das er seit dem ersten Lockdown schmerzlich vermisst. Und da geht es nicht nur ums Spiel auf dem Rasen. Acht Freunde sind sie, die sich schon Stunden vor Anpfiff im Gasthof Birkenhof treffen. „Dann wird natürlich das eine oder andere Kölsch getrunken, und wenn wir im Stadion sind befinden wir uns schon in einer gewissen positiven Grundhaltung“, erzählt Gelhausen augenzwinkernd.
Das Feiern im Blut
„Der Rheinländer feiert halt gerne“, sagt er fast entschuldigend. „Im Birkenhof trifft man auf andere Fußballverrückte, und wenn es Fans von der gegnerischen Mannschaft sind, dann nehmen wir die gerne in unsere Runde auf. Der Rheinländer ist aufgeschlossen und von Grund auf unvoreingenommen“, ist Gelhausen überzeugt. Der 62-Jährige gehört zu jener rheinländischen Spezies, die es nicht lange „im Ausland“ aushält. Holland ist da oft schon fast zu weit vom Rhein entfernt. „Wenn ich auf der Autobahn aus Richtung Aachen komme und in Höhe der Raststätte Frechen den Dom sehe, wenn ich die vier Pylonen vom Stadion sehe, dann geht mir einfach das Herz auf. Köln, Dom, Stadion, FC – das ist Heimat, und wenn du das mit Freunden erlebst, ist es das Schönste, das es gibt“, schwärmt er.
Und darum leidet er. „Mega beschissen“, findet er das. Genauso fehlt ihm das Kölsch, die Live-Musik und das „Klönen“ in der Harmonie. „Du merkst erst wie toll und wie lebensnotwendig das alles ist, wenn Du‘s verlierst“, sagt er. Er selbst kann damit umgehen. Er hat seine Familie und seinen Laden. Aber da gäbe es schon ein paar Kumpels, die richtige Depressionen bekämen, sagt er. „Eben erst hat mich ein Freund angerufen, dem das alles schwer zu schaffen macht. Und dann sagte er: Das einzige, was dagegen hilft, ist Rory Gallagher. Das ist wie drei Liter frisches Blut.“
Schlechte Laune ist jetzt leider normal
Der irische Bluesrock-Gitarrist wird nicht jedem helfen. Dennoch hat Lütz eine gute Nachricht für alle, denen es ähnlich geht: „Sich in einer solchen Zeit schlecht zu fühlen, ist völlig normal“, sagt Lütz. „Wir erleben doch alle zurzeit eine Situation, die es so noch nie gegeben hat: eine weltweite Ausnahmesituation. Dass man traurig ist, wenn soziale Kontakte fehlen, wenn man Sorge um den Arbeitsplatz hat, wenn man sich eingeschlossen fühlt, ist eine gesunde Reaktion auf eine schwierige Situation. Krank wäre es eher, wenn sich jemand in einem Lockdown pudelwohl fühlte, vielleicht wäre er dann ein Autist.“
Aber warum reicht es nicht, wenn Schmidt seine Kommilitonen am Computer trifft und Gelhausen seine Freunde jeden Tag am Telefon spricht? Und auch ein Fußballspiel oder Konzert kann man doch bequem vom Sofa aus genießen. „Weil der Mensch nicht nur ein geistiges, sondern auch ein körperliches Wesen ist, das mit allen Sinnen etwas erlebt. Aber immerhin können viele an sinnliche Erfahrungen anknüpfen. Wer noch nie ein Fußballspiel im Stadion erlebt hat, kann natürlich nicht so gut nachempfinden, warum einem anderen das so viel bedeutet. Wenn Sie einer zentralafrikanischen Familie die Aufzeichnung einer Karnevalssitzung mit schunkelnden Leuten vorspielen, spüren die absolut nichts, der Mainzer oder Kölner kriegt gleich feuchte Augen“, sagt Lütz. Und: „Weil sie sinnliche Wesen sind, wünschen Menschen sich die Nähe von anderen Menschen. Es ist eben ein Unterschied, ob Sie in einem Club tanzen oder zu Hause alleine vor dem Radio.“
Karnevalsdienstag hat sie zum letzten Mal getanzt. Und das fehlt ihr so sehr. Mit ihren Freundinnen im Kreis zu stehen inmitten einer großen Menge, die Menschen um sie herum zu spüren, die alle einfach nur loslassen, die alle einfach Spaß haben wollen, sich zuprosten, die Lieder aus vollen Kehlen mitsingen. Die Musik spürt sie im Magen und auf der Haut, und manchmal liegt man sich einfach in den Armen. „Das alles fehlt mir so sehr“, sagt Patty Burgunder. Die 42-Jährige ist im wirklichen Leben Bankkauffrau, Partnerin und Mutter. Die meisten kennen sie als Wäscherprinzessin, als Bonna, als aktive Frau im Brauchtum und Vereinsleben in Beuel. Kein Weiberfastnacht, kein Pützchens Markt wird je verpasst. Und doch sagt sie: „Dass wir den 11.11. nicht feiern können, dass es keine Weibersitzungen geben soll, damit kann ich leben. Die Fahne des Brauchtums kann ich auch anders hochhalten. Aber ich vermisse das Feiern, das Treffen von Freunden und Bekannten, dieses Körperliche auf Partys, das gemeinsame Lachen, über das ein ganz besonderes Gefühl transportiert wird.“
Beim Feiern den Sinn des Lebens erleben
Warum ist Feiern so wichtig, Herr Lütz? „Beim Feste feiern kann man den Sinn des Lebens erleben. Ein wirkliches Fest ist völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll“, sagt Lütz kurz und knapp und lacht. „Wenn man zu einem Fest geht mit der Absicht, berufliche oder private Kontakte zu knüpfen, dann ist das kein echtes Fest. Bei einem wirklichen Fest feiert man einfach den schönen und erfüllenden Moment, das Zusammensein mit anderen liebenswürdigen Menschen, man feiert das Leben selbst.“ Dazu brauche man Muße, wie die alten Griechen das nannten: „Wir arbeiten, um dann Muße zu haben“ sagte Aristoteles.
„Tatsächlich ist ein Fest, das in gewissem Maße zwecklos, aber sinnvoll ist, etwas unglaublich Schönes und Erfüllendes. So eine Feier, wo man Lobbyisten trifft, wo der Zweck ist, Netzwerke auszubauen und Kontakte zu knüpfen, ist kein Fest. Eine losgelöste Feier, die völlig unproduktiv ist, komplett sinnbefreit, wo man in der Gegenwart lebt und sich einfach an der Freude erfreut, macht erst einen erfüllten Abend aus.“
Lütz findet das Gerede von der Krise als Chance angesichts von mehr als einer Million Toten weltweit und vielen Menschen, die um ihre Existenz bangen, zynisch. Aber dennoch könne man versuchen, das Beste aus dieser Zeit zu machen. Die Gegenwart unmittelbarer erleben, die Unwiederholbarkeit jedes Moments spüren und dadurch intensiver Mensch zu sein, darum könne man sich in diesen merkwürdigen Zeiten bemühen.
Lütz rät den Menschen, den Alltag weniger durchzuplanen: „Es muss nicht alles verzweckt werden. Man muss nicht fünfmal die Woche ins Fitnessstudio oder drei Kurse an der VHS machen, um zu spüren, dass man lebt.“ Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut plädiert in einigen seiner sehr erfolgreichen Bücher ja eh für etwas mehr Gelassenheit in vielen Fragen des Lebens. In seinem Buch „Lebenslust“ heißt ein Kapitel sogar „Sterben und Tod als Würze des Lebens“ – mit einem augenzwinkernden Hinweis auf frühe pompejanische Bordelle, wo Totenmasken die Wände zierten, ein Fingerzeig, jeden Tag intensiv zu leben, „weil jeder Moment kostbar und unwiederholbar ist“.