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Infektiologin Marylyn Addo„Wir dürfen die Kinder nicht um ihre Chancen bringen“

Lesezeit 4 Minuten
Marylyn Addo

Die Leiterin der Infektiologie, Professor Dr. Marylyn Addo

  1. Die renommierte Infektiologin Marylyn Addo fordert, die Schulen offen zu halten.
  2. Hier sei die Lage beherrschbar. Ob Ältere zuerst geimpft werden, sei noch offen und hänge von den Studienergebnissen ab.
  3. Durch das Zusammenrücken von Mensch und Tier wachse die Gefahr von Pandemien.
  4. Antje Höning spach mit ihr über den Kampf gegen Corona.

Die Infektionszahlen steigen. Wie bedrohlich ist die Lage?Marylyn Addo: Der Anstieg im Herbst kam schneller und steiler, als viele das nach dem vergleichsweise entspannten Sommer erwartet hatten. Daher halte ich es für richtig, dass die deutsche Politik Anfang November vorübergehende Schließungen von Gastronomie, Kultur- und Sportveranstaltungen verfügt hat.

Reicht das – oder werden wir in diesem Winter einen richtigen Lockdown erleben, wie ihn Österreich jetzt hat?

Addo: Es ist möglich, dass es in diesem Winter noch eine Verschärfung der Maßnahmen geben wird. Wichtig ist es meiner Meinung nach, dass wir versuchen, die Schulen so lange wie möglich offenzuhalten. Schulen sind systemrelevant, wir dürfen die Kinder nicht um ihre Chancen bringen. Natürlich müssen Hygienekonzepte hier so optimal wie möglich gestaltet werden, um dies sicher zu ermöglichen.

Mit Biontech und Moderna haben nun zwei Hersteller Zwischenergebnisse ihrer Impfstoff-Studien veröffentlicht. Wie bewerten Sie diese? Wird jetzt alles gut?

Addo: Die Zwischenergebnisse sind sehr versprechend. Beide zeigen zu über 90 Prozent Wirksamkeit, das ist sehr gut und besser als viele erwartet haben. Viele andere Daten aber fehlen noch: Schützen die Impfstoffe nur vor Erkrankung oder auch vor der Infektion? Letzteres würde es erleichtern, die Infektionsraten zu reduzieren. Wirken sie bei Älteren genauso wie bei Jüngeren? Gerade diese Frage ist auch wichtig, wenn es um die Priorisierung bei den Impfungen geht.

Wie meinen Sie das?

Addo: Weil zunächst nicht genug Impfstoff für alle zur Verfügung stehen wird, wird man priorisieren müssen. Ziel ist es zunächst, die Zahl der Todesfälle zu senken. Hierzu haben Ethikrat, Leopoldina und Ständige Impfkommission ein Positionspapier vorgelegt. Wirken die Impfstoffe bei Älteren schlecht, würde man bei den Impfungen wahrscheinlich nicht in dieser Population anfangen. Doch das wissen wir noch nicht. Zudem sind ja auch verschiedene Kandidaten im Rennen, die womöglich zu weiteren Ergebnissen kommen.

Wem trauen Sie noch etwas zu?

Addo: Neben Moderna und Biontech liegt auch Astrazeneca weit vorn. Der britische Konzern setzt auf einen so genannten Vektorimpfstoff, der sich aus einem Schimpansen-Erkältungsvirus ableitet. Hier geht es, vereinfacht gesagt darum, den menschlichen Körper zur Bildung von Antikörpern gegen das Spike-Protein anzuregen, jene Stacheln, die dem Coronavirus ihr besonderes Aussehen verleihen. An einem solchen Vektorimpfstoff arbeiten auch wir hier am UKE in Hamburg.

Wie weit sind Sie?

Addo: Bei uns läuft derzeit eine Phase-1-Studie mit 30 Probanden und wir bereiten nun die Phase 2 der klinischen Studie mit 600 Probanden vor. Wir können bisher sagen, dass der Impfstoff gut vertragen wird. Nun sind wir gespannt auf

Wie viele Menschen in einem Land muss man impfen, um die Pandemie zu stoppen?

Addo: Je mehr Menschen sich freiwillig impfen lassen, desto besser. Zugleich ist Impfen nur ein Baustein, aber ein sehr wichtiger Baustein, bei der Bekämpfung der Pandemie. Wir werden sehr wahrscheinlich noch lange mit dem neuen Coronavirus leben müssen.

Wieso das? Manche denken, wenn der Impfstoff kommt, ist die Pandemie vorbei.

Addo: Auch wenn die ersten Impfstoffe zugelassen sind, wird es noch eine Weile dauern, bis sie breiter verfügbar sind. Das heißt wir müssen zunächst auch weiterhin die AHA-L Regeln einhalten, bis das Infektionsgeschehen durch die verschiedenen Säulen der Pandemiebekämpfung ausreichend reduziert wird. Mit den Impfstoffen wird es eine neue Normalität geben. Wir werden lernen, mit dem Virus zu leben.

Ihre Wünsche an die Politik?

Addo: Zuerst müssen wir gemeinsam alles tun, um gut durch die Krise zu kommen. Dann müssen wir versuchen, uns zukünftig besser auf Pandemien vorbereiten – im Gesundheitssystem, in der Wissenschaft, bei der Digitalisierung von Schulen und Verwaltungen, beim Wissenschaftsaustausch. Wir müssen die Gefahr im kollektiven Gedächtnis behalten. Forscher hatten früh gewarnt, dass neuartige Viren zu einem Problem werden könnten. Auch nach dieser Pandemie gilt: Die nächste Pandemie kommt bestimmt.

Wie wird sie aussehen?

Addo: Das wissen wir nicht, aber vermutlich wird sie wieder von einer Zoonose ausgehen, also einem Virus, das vom Tier auf den Menschen überspringt. Ebenso ist es vorstellbar, dass es eine aggressive Form der Influenza gibt, die wie die Spanische Grippe 1918 wirkt.