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Dunkelziffer, Zahlenchaos, StudienWie gefährlich ist das Coronavirus wirklich?

Lesezeit 7 Minuten
Labor Corona

Wissenschaftler forschen mit Coronaviren in einem Labor der biologischen Sicherheitsstufe 3.

  1. 178.281? Oder 1,8 Millionen? Wie viele Menschen haben sich in Deutschland bisher mit dem neuen Coronavirus infiziert?
  2. Wie gefährlich ist das Virus wirklich, wie viele Infizierte versterben an den Folgen von Covid-19?
  3. Ein Überblick über die Datenlage

Wie hoch ist die Corona-Dunkelziffer?

178 281, so viele Corona-Infektionen hatte das Robert-Koch-Institut (RKI) am Sonntag, 0 Uhr, in Deutschland erfasst. Zugrunde liegen in der Regel Untersuchungen per Abstrich. So wird weltweit verfahren (siehe Grafik unten). Auch das RKI geht von einer Dunkelziffer nicht getester Fälle aus.

1,8 Millionen – das wiederum ist eine Schätzung aufgrund einer Fallstudie nach dem Corona-Ausbruch in Gangelt (Kreis Heinsberg). Forscher um den Bonner Virologen Henrik Streeck nahmen 919 Probanden Blut ab. 14 Prozent hatten Antikörper gegen das neue Virus. Auf einem Umweg (über die Sterblichkeit, siehe unten) ergaben sich 1,8 Millionen, Stand Anfang Mai. „Das muss man natürlich immer ein bisschen mit Vorsicht genießen, es ist eine Schätzung“, sagte Streeck damals.

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Ein bisschen mit Vorsicht? „Ich war entsetzt, als ich das las“, meint der in Köln lebende Statistikprofessor Gerd Bosbach. Die Heinsberg-Studie habe große Verdienste, was das Ermitteln von Infektionswegen angeht. Aber aus einer kleinen lokalen Stichprobe dürfe man keine solche Zahl ableiten.

Solange es aber keine belastbare Gesamtzahl gibt, muss sich das RKI für die Schätzung der Reproduktionsziffer (wie viele Menschen steckt ein Infizierter an?) auf unvollständige Daten verlassen. Dass die R-Zahl schon Mitte März, nach der bundesweiten Absage von Großveranstaltungen, nach unten ging, ist plausibel. Aber man wüsste es gern genauer.

Was tun? Schon im März hatte Professor Gérard Krause eine Idee: Der Epidemologe vom Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung wollte eine repräsentative Studie starten. Bluttests wie in Gangelt, aber bundesweit, mit über 100 000 Probanden. Dann nahm sich das RKI der Sache an. Einen Starttermin gibt es immer noch nicht. Die repräsentative Auswahl sei extrem langwierig, sagt RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher. Zunächst soll es weitere regionale Erhebungen geben, ähnlich denen, die in Bonn und München laufen. „Ich weiß nicht, ob die an den Zahlen überhaupt interessiert sind“, unkt Bosbach. Krause sagt nichts mehr zum Startzeitpunkt.

Welche Erkenntnisse liefern andere Studien?

Das Madrider Institut Carlos III., sozusagen das Robert-Koch-Institut von Spanien, hat Bluttests bei gut 60 000 Einwohnern gemacht. Zwischenergebnis: Fünf Prozent hatten bereits eine Corona-Infektion durchgemacht. Hochgerechnet auf alle Spanier wären das 2,3 Millionen Menschen. Nur ein Zehntel der Infizierten war demnach jemals positiv getestet worden. In Gangelt war es ein Fünftel.

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Wie viele Infektionen enden tödlich?

Die Einschätzung, wie gefährlich Covid-19 ist, hängt mit der Frage nach der Dunkelziffer zusammen. Das RKI nennt eine  „Fallsterblichkeit“: 4,6 Prozent der offiziell erfassten Fälle. Das sagt nichts über die tatsächliche Sterblichkeit, die „Infection Fatality Rate“, kurz IFR.

 Beispiel Spanien: Das Land hat bisher gut 27 000 Corona-Tote gemeldet, das entspricht zehn Prozent aller behördlich erfassten Fälle. Die Carlos-III.-Studie aber ergab eine IFR von nur 1,1 Prozent.

Den ersten Versuch, die IFR zu ermitteln, gab es am Anfang der Pandemie. 696 Passagiere und Besatzungsmitglieder der im Pazifik kreuzenden „Diamond Princess“ hatten sich infiziert. Über 300 hatten keine Beschwerden. Aber sieben Infizierte, alle über 70 Jahre alt, starben. Also ein  Prozent.

Einen Moment bitte, sagt Statistiker Bosbach. So eine Passagierliste liefert keinen repräsentativen Querschnitt durch die Bevölkerung irgendeines Landes – weder hinsichtlich des Alters noch etwa des Sozialstatus. Der Stanford-Epidemologe John Ioannidis meinte gar, mit diesen Daten könne man jede beliebige Sterberate zwischen 0,05 und einem Prozent „beweisen“. Allerdings versuchten schon die „Diamond-Princess“-.Forscher, das zu hohe Durchschnittsalter herauszurechnen, und kamen auf eine IFR-Bandbreite von 0,4 bis 3,6 Prozent.

Die Heinsberg-Studie wies eine IFR von 0,37 Prozent aus, ermittelt wiederum nur aus sieben Todesfällen (Bosbach: „Da können schon Zufälle das Bild sehr verändern“). Das war der Faktor, der – angewendet auf damals knapp 7000 Corona-Tote in Deutschland – zur Schätzung von 1,8 Millionen Infizierten führte. Eine Erhebung in der Stadt New York ergab dagegen eine Sterblichkeit von 1,1 Prozent wie in Spanien.

Welche Rolle spielt die Umweltbelastung?

Mit Blick auf den Beginn der Corona-Welle in Europa vermutete Yaron Ogen von der Universität Halle einen Zusammenhang zwischen der damals besonders hohen Stickstoffdioxid-Belastung in Norditalien und im Raum Madrid und den vielen Todesfällen dort. Eine ähnliche These hatte auch der Mainzer Mikrobiologe Sucharit Baghdi aufgestellt.

Allerdings: Ogen erhob Daten aus einer Phase, in der es in großen Teilen Europas kaum Corona-Infektionen gab. Inzwischen hat Großbritannien europaweit die meisten relevanten Sterbefälle. In Madrid dagegen liegt die Corona-IFR im spanischen Durchschnitt.

Die Harvard-Universität blickte Anfang April auf die Feinstaubbelastung: Ein Mikrogramm mehr von der feinsten Fraktion (pm 2,5) pro Kubikmeter Atemluft erhöhe die Sterblichkeit um 15 Prozent. Allerdings war die Corona-Datenlage in den USA damals miserabel. Und: In Großstädten gibt es nicht nur Feinstaub, sondern auch enge Wohnverhältnisse und überfüllte Busse und Bahnen. Auch solche Risikofaktoren müssten überprüft werden.

Welche Fälle zählen´als Corona-Tote?

Schon auf der „Diamond Princess“ war es zwar wahrscheinlich, aber nicht sicher, dass die sieben Toten an Covid-19 und nicht aus anderer Ursache  gestorben waren. Das gleiche Problem gibt es in allen erwähnten Studien. Umgekehrt wird nicht jeder Verstorbene auf Corona getestet, so dass relevante Sterbefälle übersehen werden können.

Die Sterbestatistik kann das Bild ergänzen. In England und Wales etwa starben zwischen dem 13. März und dem 8. Mai 49 353 Menschen oder gut 50 Prozent (!) mehr, als nach dem langjährigen Durchschnitt zu erwarten gewesen wäre. Corona-Infektionen wurden in dieser Zeit bei 37 925 Verstorbenen festgestellt.

In Deutschland gab es von der zwölften bis zur 16. Kalenderwoche (Mitte März bis Mitte April) 5970 Sterbefälle mehr als im mehrjährigen Durchschnitt. In der 17 Woche (20.–26. April) betrug die „Übersterblichkeit“ noch 556 Fälle. Zeigt das die Folgen der Pandemie, oder ist das (bei im Schnitt 2570 Sterbefällen pro Tag) eine normale Schwankung? Starben auch Menschen, weil sie aus Furcht vor Corona nicht ins Krankenhaus wollten? Fragen über Fragen.

Ein wenig Orientierung liefert die Freie und Hansestadt Hamburg. Sie lässt alle verstorbenen Corona-Patienten gerichtsmedizinisch untersuchen. Ergebnis: Bei bislang 88 Prozent war Covid-19 nachweislich die Todesursache. Damit wären die Totenzahlen einigermaßen belastbar.

Erreichen wir irgendwann die „Herdenimmunität“?

Bleibt die Frage aller Fragen: Wird die Pandemie von selbst „ausbrennen“, wie es jüngst der britische Epidemologe Karol Sikora in Aussicht stellte? Zwei Drittel der Bevölkerung müssten Immunität aufbauen, dann könnte sich die Pandemie nicht mehr explosionsartig ausbreiten. Das wäre die berühmte „Herdenimmunität“.

Sikora bezog sich auf eine Kalkulation, nach der 19 Millionen Briten, fast ein Drittel der Bevölkerung, Kontakt mit dem Virus gehabt hätten. Reihenuntersuchungen liegen dem nicht zugrunde. Wo es die wie in Spanien gab, sind die ermittelten Infektionsraten meist geringer. Im Schweizer Kanton Genf waren es Ende April 5,5 Prozent, in Stockholm 7,3. Ausnahme ist die Stadt New York mit 21 Prozent.

Zudem: Gibt es überhaupt eine Immunität gegen Sars-CoV-2? „Wir wissen es noch nicht“, schreibt der Münchner Virologe Oliver Keppler. Aufgrund von  Erfahrungen mit anderen Viren sei eine zeitlich befristete Immunität denkbar. Wie lange befristet? Zur Klärung will Streeck wieder in Gangelt forschen. Die Antwort wird maßgeblich auch für die Chancen einer Impfung sein.

Die Rolle von Bill Gates

Anderthalb Monate vor Bekanntwerden erster Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung in Wuhan hat die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore ein Szenario simuliert, das der aktuellen Sars-CoV-2-Pandemie verblüffend ähnelt.  Das Planspiel „Event 201“ wurde durch die Stiftung von Microsoft-Gründer Bill Gates und seiner Frau Melinda unterstützt. Heute steht Gates, der schon lange vor Pandemien warnt und Impfstoff-Projekte fördert, im Fokus von Verschwörungstheorien.

Um was ging es? Ähnlich wie ein Planspiel der Bundesregierung von 2012 ging „Event 201“ von einem fiktiven Coronavirus aus. Das lag nach den durch Coronaviren ausgelösten Sars- und Mers-Epidemien nahe. Die Sars- und Mers-Erreger führten bei vielen Patienten zu schwerer Erkrankung und zum Tod – und begrenzten so ihre eigene Verbreitung. „Event 201“ spielte das Beispiel eines Virus durch, das oft nur milde Symptome erzeugt und sich deshalb flächendeckend ausbreitet. Bilanz: Wenn kein Impfstoff gefunden wird, trifft die Infektion über 90 Prozent der Weltbevölkerung, 65 Millionen sterben. Danach entwickelt sich das fiktive Corona-Leiden zur klassischen Kinderkrankheit.

Das Planspiel, das mit einem Fall in Brasilien startete, war keine Vorhersage der aktuellen Pandemie, hätte aber eine Warnung sein können. Videos stehen online:

www.centerforhealthsecurity.org/event201/media