Europas Presse sieht einen „kolossalen Fehler“, deutsche Künstler einen „historischen Tabubruch“. Merz kontert – und bleibt bei seinem Kurs.
Erneuter Tabubruch von Merz drohtTausende protestieren – Holocaust-Überlebender zieht Konsequenzen
Die Union und Kanzlerkandidat Friedrich Merz bekommen immer schärferen Gegenwind. Nachdem die CDU/CSU-Fraktion am Mittwoch einen Antrag für eine scharfe Migrationspolitik nur mit den Stimmen der FDP und der AfD durchgesetzt hatte, reißt die Kritik am Tabubruch im Bundestag nicht ab.
Im Gegenteil: Am Donnerstag demonstrierten laut Polizeiangaben rund 6.000 Menschen vor dem Konrad-Adenauer-Haus in Berlin, die Belegschaft verließ die CDU-Zentrale aus Sicherheitsgründen vorzeitig. Die Veranstalter sprachen derweil von rund 13.000 Teilnehmern. In anderen deutschen Städten kam es ebenfalls zu Protesten, in Hannover gingen dabei rund 7.500 Menschen auf die Straße. In Köln hatte es am Donnerstag Proteste gegeben. Am Freitag soll es erneut eine „Mahnwache“ vor der Kölner CDU-Zentrale geben.
In den deutschen Nachbarländern bekam die mit AfD-Stimmen gewonnene Abstimmung im Bundestag ebenfalls große Aufmerksamkeit. Europas Presse fand dabei mitunter deutliche Worte. „Dieser Tag wird traurig in die Geschichte eingehen“, schrieb die italienische Zeitung „La Repubblica“. Der Schweizer „Tages-Anzeiger“ attestierte dem CDU-Chef einen „kolossalen Fehler“. Von einem „Bruch mit dem Asylrecht, das sowohl in Deutschland als auch in der EU gilt“, war derweil bei der niederländischen Zeitung „De Volkskrant“ die Rede.
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Merz‘ Tabubruch: Europas Presse reagiert scharf – Rumoren in Union
Innerhalb der CDU wächst unterdessen die Kritik am Kurs des Parteichefs: Nachdem Altkanzlerin Angela Merkel sich am Donnerstag gegen Merz gestellt hat, erklärte nun auch Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin, dass sein Bundesland im Bundesrat keinem Gesetz zustimmen werde, für das die Stimmen der AfD maßgeblich gewesen seien. Daniel Günther, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, hatte diesen Schritt bereits vorab angekündigt.
Auch der Publizist Michel Friedman reagierte am Donnerstag auf Merz‘ Kurs – und trat aus der CDU aus. In den Neunzigerjahren gehörte Friedman dem Bundesvorstand der Partei an. Dass Merz seinen migrationspolitischen Antrag mit AfD-Stimmen durchgebracht hat, sei „eine katastrophale Zäsur für die Demokratie“ und ein „unentschuldbares Machtspiel“, erklärte der Publizist. Dass der CDU-Chef mit der AfD koalieren würde, glaube er zwar nicht, führte Friedman aus. Die „Büchse der Pandora“ zur Normalisierung der AfD sei aber am Mittwoch geöffnet worden.
Michel Friedman verlässt CDU: „Büchse der Pandora“ geöffnet
Hunderte Kunst- und Kulturschaffende warfen CDU und CSU außerdem am Donnerstag in einem offenen Brief einen „Pakt mit der AfD“ und einen „historischen Tabubruch“ vor. Auf der Liste der Unterzeichner des in der Zeitschrift „Vogue“ veröffentlichen Textes finden sich prominente Namen wie die Schauspieler Daniel Brühl, Jella Haase, Karoline Herfurth, der Moderator Joko Winterscheidt sowie Musiker wie Bela B. oder Sabrina Setlur.
Der Holocaust-Überlebende und Bundesverdienstkreuz-Träger Albrecht Weinberg erklärte unterdessen, dass er als Konsequenz aus dem Tabubruch im Bundestag die höchste deutsche Auszeichnung an Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier zurückgeben werde. „Nach allem, was ich in Deutschland erlebt habe als Jude, erfüllte mich das mit Stolz. Ich fühlte eine große, große Ehre, als ich es 2017 erhielt, nun aber will ich es nicht mehr“, sagte der 99-Jährige dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ über seine Entscheidung.
„Was Friedrich Merz durchgezogen hat, ist unverzeihlich“
Weinberg und seine Schwester Friedel haben die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt, als Einzige in ihrer Familie. „Ich bin kein Politiker, doch was Friedrich Merz am Mittwoch im Bundestag durchgezogen hat, ist unverzeihlich“, führte der 99-Jährige aus. „Bei mir hat sein Erfolg mit den Stimmen der AfD Urängste ausgelöst – und so schnell wird mir eigentlich nicht mehr bange.“
„Traurig, aber auch wirklich wütend“ sei er, erklärte der 99-Jährige. „Hoffentlich erhält Herr Merz, der ja Bundeskanzler werden will, mehr Gegenwind für seinen Kurs.“ Neben Weinberg kündigte auch der Fotograf Luigi Toscano an, sein 2021 an ihn verliehenes Bundesverdienstkreuz zurückgeben zu wollen.
Tabubruch könnte am Freitag direkt wiederholt werden
CDU-Chef Merz hat unterdessen am Donnerstag SPD und Grüne aufgefordert, am Freitag für einen Gesetzesentwurf der Union zu stimmen, der einen Stopp des Familiennachzugs für Geflüchtete vorsieht. Wie bereits beim Antrag auf eine radikale Wende in der Asylpolitik am Mittwoch haben SPD und Grüne ihre Ablehnung bereits angekündigt und Merz aufgefordert, den Gesetzentwurf nicht einzubringen.
Somit droht das bis in dieser Woche unter den Parteien der Mitte geltende Tabu, die Stimmen der als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuften AfD nicht zur Durchsetzung der eigenen politischen Ziele zu nutzen, nur zwei Tage später erneut gebrochen zu werden.
Friedrich Merz: Keine Gespräche oder Verhandlungen mit der AfD
„Ich gebe bis zum Schluss die Hoffnung nicht auf, dass die Sozialdemokraten die Kraft finden, dem Vorschlag von uns zuzustimmen“, sagte Merz dazu bei einem Wahlkampfauftritt in Dresden am Donnerstag. Auch zu seinem Verhältnis zur AfD äußerte sich der Kanzlerkandidat, der mit seiner Partei in den Umfragen vor der Bundestagswahl klar vorne liegt.
„Ich suche keine Mehrheiten außerhalb des breiten Spektrums der politischen Mitte“, versicherte Merz. Dazu gehörten die SPD, die Grünen, die FDP und „selbstverständlich wir auch“, so der CDU-Chef. Dass die AfD seit 2017 im Bundestag sitze, habe etwas mit der Politik der vergangenen Jahre zu tun, erklärte Merz weiter und fügte an: „Dafür trägt auch meine Partei eine gehörige Verantwortung.“
„Das wäre der endgültige Abstieg für Deutschland“
Die Politik müsse nun so weit korrigiert werden, dass die AfD in Deutschland nicht mehr gebraucht werde, fuhr der Kanzlerkandidat fort und versicherte, dass er weder Gespräche noch Verhandlungen mit der AfD wolle. „Das wäre der endgültige Abstieg für Deutschland“, sagte der CDU-Chef, der auch die Proteste vor der CDU-Zentrale in Berlin kommentierte. Es sei übertrieben, das Adenauerhaus lahmzulegen, kritisierte Merz und rief SPD und Grüne dazu auf, mäßigend einzuwirken.
„Grüne und SPD, kriegt Euch wieder ein – ihr spaltet das Land“, befand unterdessen der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer. Vergleiche mit den 1930er Jahren lasse man sich nicht gefallen, erklärte der sächsische CDU-Landeschef weiter. Zuvor hatte es vom sächsischen SPD-Chef Henning Homann scharfe Kritik an der Union gegeben. „Der deutsche Konservatismus droht das zweite Mal nach 1933 historisch zu versagen“, hatte Homann nach der Abstimmung am Mittwoch geschrieben.
Umfrage: Wahlberechtigte angesichts Merz-Kurs gespalten
Die Wahlberechtigten in Deutschland stehen der Debatte unterdessen laut einer Umfrage gespalten gegenüber. Nach dem aktuellen RTL/ntv-Trendbarometer befürworten 46 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland, dass die CDU/CSU-Fraktion bei der Abstimmung im Bundestag über ihren Antrag zur Zuwanderungspolitik bewusst die Zustimmung der AfD in Kauf genommen hat. 50 Prozent finden das falsch und meinen, die Union hätte das nicht tun sollen. (mit dpa)