„Solche Wunder gibt es nicht mehr“Otto Rehhagel über den neuen Kinofilm „King Otto“
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Essen – Es war eine der größten Sensationen der Fußball-Geschichte: Griechenland, erstmals überhaupt für eine Endrunde qualifiziert, wurde 2004 in Portugal Europameister. Jetzt ist die Geschichte dieses Triumphes in einem Dokumentarfilm erzählt worden. Wer könnte besser über den Film und den Triumph sprechen als Trainer Otto Rehhagel, in Griechenland verehrt als „König Otto“ oder „Rehhakles“.
Pünktlich auf die Minute betritt der Meister den Presseraum im Stadion an der Hafenstraße in Essen. Hier begann 1960 seine Profilaufbahn, in seiner Geburtsstadt lebt er heute. Angeblich ist er 83, er ist rank und schlank, hat sich seinen jungenhaften Charme bewahrt und lässt die Erinnerungen sprudeln.
„Als wir nach Portugal kamen, dachten viele: Ach ja, die Griechen spielen auch noch mit. Alle haben uns unterschätzt, das war ihr entscheidender Fehler. Ich wusste, dass wir eine gute Mannschaft hatten, die Jungs waren in der Form ihres Lebens. Und selbstbewusst, denn schon die Qualifikation für die EM war ein Riesenerfolg.“
„King Otto“ heißt der Film von Regisseur Christopher André Marks, ein Amerikaner mit griechischen Wurzeln. In Athen gab es eine rauschende Premiere in einem Open-Air-Kino, in Deutschland kommt der Film nach der Präsentation in der Essener Lichtburg am 10. November in die Kinos. Die DVD ist zu Weihnachten auf dem Markt, im Frühjahr 2022 wird er im Fernsehen gezeigt. Rehhagel war bei der Premiere dabei.
„Das war eine super Geschichte, danach bin ich mit meinen Jungs gemeinsam essen gegangen – durch den unglaublichen Erfolg sind Freundschaften fürs Leben entstanden. Der Film dokumentiert hervorragend, dass auch Außenseiter ihre Chance haben. Bei uns hat der Sieg im Eröffnungsspiel etwas Besonderes ausgelöst – wir gewannen gegen den Topfavoriten und Gastgeber Portugal.“
Am 4. Juli 2004, dem 50. Jahrestag des Wunders von Bern, das den Jungen Otto 1954 in den Bann des Fußballs zog, traf Griechenland erneut auf Portugal – im Finale, nach Siegen gegen Frankreich und Tschechien. Dank eines Tores von Angelos Charisteas und einer starken Defensivleistung krönten Ottos Griechen ihren Erfolgsweg. War das der größte Erfolg seiner 40-Jährigen Trainerkarriere?
Ottos Weg
Als Spieler: TuS Helene Altenessen, RW Essen (1960 bis 1963), Hertha BSC (1963 bis 1966), 1. FC Kaiserslatern (1966 bis 1972).
„Natürlich hatte der Titelgewinn eine weltweite Ausstrahlung. Die Begeisterung in Griechenland war riesengroß – für die Fahrt vom Flughafen ins Zentrum, die normalerweise eine dreiviertel Stunde dauert, brauchte unser Bus fünf Stunden, weil uns über eine Million Menschen empfingen. Aber jeder Erfolg hat seine Geschichte und seine Bedeutung. Als ich noch in Kaiserlautern spielte, fragte mich ein kleiner Verein aus der Nähe, ob ich das Training übernehmen könnte – der SV Rockenhausen stand abgeschlagen am Tabellenende der Bezirksliga. Wir wurden eine fantastische Einheit und schafften den Klassenerhalt, dieser Zusammenhalt und die Begeisterung ist mir auch unvergesslich.
Der griechische Triumph mit einem deutschen Trainer fiel zusammen mit einem Vorrunden-Aus der deutschen Nationalmannschaft und dem Rücktritt von Teamchef Rudi Völler. Verzweifelt suchte eine Findungskommission des DFB nach einem Hoffnungsträger – und klopfte natürlich bei Rehhagel an. Die Aufgabe reizte ihn, aber…
„…ich war Griechenland verpflichtet, nicht nur wegen des Vertrags. Die Griechen standen in großer Liebe zu ihrem Trainer, der Erfolg hatte uns noch enger verbunden. Welcher Trainer will nicht gern Bundestrainer werden, aber ich konnte und wollte in dem Moment meine Griechen nicht verlassen.“
Die meisten Erfolge feierte er mit Werder Bremen, doch die größte Sensation gelang ihm mit dem 1. FC Kaiserslautern: Meister als Aufsteiger, einmalig in der Bundesliga. Griechenland 2004, Lautern 1998 – sind solche Wunder heute noch möglich?
„Ich glaube das nicht, auch wenn wir gerade eine Situation in der Bundesliga haben, dass die Bayern nach einer Niederlage gleichauf sind mit Leverkusen und sie dort antreten. Aber ob das langfristig reicht, muss man abwarten. Wenn die Bayern auch in 20 Jahren noch deutscher Meister werden, dann gefällt das doch keinem. Es kann nichts mehr zusammenwachsen und reifen. Wenn ein Trainer heute gefragt wird „Wie kann die Mannschaft besser werden?“, dann sagt er: „Wir brauchen einen Scheich, der uns die besten Spieler kauft.“
Seine Laufbahn ist vorbei, sein letztes Engagement bei Hertha BSC endete 2012 mit dem Abstieg. Wäre er gern in der heutigen Zeit Trainer?
„Wünschen würde ich mir, wenn man mich zurückversetzen würde in die Zeit, als auf den Mannschaftsfotos außer den Spielern nur der Trainer stand. Heute sind da die Spieler – und noch eine Mannschaft, das sind die ganzen Trainer und Betreuer. Je mehr Leute da sind, desto größer sind die Schwierigkeiten. Ich finde das nicht gut. Es kommt darauf an, dass man eine Mannschaft führen und steuern kann. Entscheidend ist dabei der zwischenmenschliche Bereich. Am Ende gibt es nur eine Wahrheit: Der Ball muss ins Tor.“
Im Presseraum an der Hafenstraße sitzt mitten unter den Journalisten – so wie früher bei den Pressekonferenzen nach den Spielen – seine Frau Beate, mit der er seit 55 Jahren verheiratet ist. Er blinzelt ihr zu und erzählt, wie sie sich 1960 beim Schlittschuhlaufen kennengelernt haben.
„Mein bester Berater war immer meine Frau Beate. Sie hat auch den Anstoß gegeben, dass ich nach Griechenland gegangen bin. Wir waren im Urlaub in Florida, als der Anruf vom Generalsekretär des griechischen Fußballverbandes kam. Als ich noch überlegte und an das letzte Länderspiel der Griechen gegen Deutschland dachte, sagte meine Frau: Griechenland? Otto, lass uns das machen.“