So unterstützt die Siegburger Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen Betroffene aus dem Rhein-Sieg-Kreis.
„Noch stark tabuisiert“Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt: Was Eltern oft nicht sehen wollen

Bei einer Schweigeaktion für die „Kinder von Lügde“ stehen Kinderschuhe auf dem Boden. Der Missbrauchsfall war einer der Ausgangspunkte für ein erweitertes Maßnahmenpaket der NRW-Landesregierung.
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„Laut Untersuchungen müssen Kinder viele Male deutliche Äußerungen machen, bevor ein Erwachsener adäquat reagiert“, sagt Volker Neuhaus, Leiter des Amtes für psychische Beratungsdienste im Rhein-Sieg-Kreis. „Sexualisierte Gewalt an Kindern ist so fürchterlich, dass Erwachsene sie oft nicht sehen wollen.“ So heiße es dann zum Beispiel, „der Opa wollte doch nur kuscheln“. Die Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen bietet Betroffenen eine erste Anlaufstelle und Beratung.
Gewachsen ist das Programm aus einem Handlungs- und Maßnahmenpaket, das die Landesregierung Nordrhein-Westfalens als Reaktion auf eine Reihe von Fällen heftiger sexualisierter Gewalt erlassen hatte. Dazu gehörten die Missbrauchsfälle in Lüdge und Bergisch Gladbach, die 2018 und 2019 bekannt wurden.
Psychologin: Kinder und Jugendliche sind ständig mit Gewalt konfrontiert
Das Land entschied unter anderem die Förderung neuer Beratungsstrukturen für betroffene Kinder und Jugendliche. Sankt Augustin und Niederkassel bauten bereits bestehende Beratungsstellen aus, zuständig für den Rest des Kreises entstand die in Siegburg und Bornheim ansässige Fachstelle. Ihre Arbeit begann im Oktober 2021.
Es habe zu Beginn kein Konzept für die Arbeit der neuen Fachstelle gegeben, berichtet Volker Neuhaus, man habe „Pionierarbeit“ geleistet: „Aus den Fragen, die uns entgegenkamen, haben wir unser Konzept gebaut und uns da ganz nach den Bedarfen gerichtet.“
Heute bietet die Psychologin Sarah Kreye mit drei weiteren Mitarbeitenden Einzelberatungen für Betroffene sowie Präventionsangebote in beispielsweise Schulen an. Letztere würden wegfallen, wenn es Kapazitätsengpässe geben sollte; die vertraulichen Beratungen bilden den Kern des Angebots der Fachstelle, sagt Kreye.
Sexualisierte Gewalt ist ein alltägliches Thema, das überall präsenter wird. Desto mehr Erwachsene zeigen, dass sie das wissen und ernst nehmen, desto mehr Kinder und Jugendliche schaffen es auch, etwas zu erzählen.
Diese können nach Terminvereinbarung telefonisch, persönlich oder über einen anonymen Chat erfolgen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene bis zum Alter von 21 Jahren erhalten hier erste Hilfeleistungen im Umgang mit sexualisierter Gewalt. Je nach Bedarf vermitteln Sarah Kreye und ihr Team die Betroffenen dann an beispielsweise therapeutische Angebote weiter. Die Anliegen der Betroffenen seien sehr unterschiedlich, berichtet die Psychologin: „Das geht von kursierenden Nacktbildern in Schulen bis zu innerfamiliärer sexualisierter Gewalt oder Vergewaltigung auf einer Party“.
Kinder und Jugendliche seien ständig mit Gewalt konfrontiert, sagt Sarah Kreye: „auch sexualisierte Gewalt ist ein alltägliches Thema, das überall präsenter wird“, so die Expertin, „desto mehr Erwachsene zeigen, dass sie das wissen und ernst nehmen, desto mehr Kinder und Jugendliche schaffen es auch, etwas zu erzählen.“ Noch immer sei das Thema stark tabuisiert, eingefahrene Denkweisen und Mythen verhindern oft, dass Betroffene Hilfe erhalten. Es finde aber ein langsames Umdenken statt, beobachtet Kreye.
Hohe Dunkelziffer: Echter Bedarf kann nicht gedeckt werden
Jugendliche, die zu ihren Beratungen kommen, sorgen sich häufig bezüglich ihrer Anonymität – ein vertraulicher Umgang mit ihren Informationen sei jedoch in jedem Fall sicher: „Kinder und Jugendliche haben qua Gesetz einen eigenen Beratungsanspruch, den sie nutzen dürfen, ohne dass ihre Eltern darüber informiert werden“, stellt Sarah Kreye klar.
Wenn Betroffene nicht in der Nähe von Siegburg wohnen und wenig mobil sind, stehe die Fachstelle auch mit den Familienberatungsstellen in Rheinbach und Eitorf in Kontakt und könne deren Räumlichkeiten nutzen. In notwendigen Fällen suchen die Beraterinnen und Berater Betroffene auch zu Hause oder in Schulen auf. Sprachbarrieren umgeht das Team mit einem Übersetzungsgerät.
Sexualisierte Gewalt an Kindern ist so fürchterlich, dass Erwachsene sie oft nicht sehen wollen.
Auch beispielsweise Fachkräfte von Schulen und Kitas, aber auch Eltern von Betroffenen berät die Fachstelle. Bei Eltern gehe es oft um die Frage, wie sie nach Übergriffen für ihr Kind da sein können. „Häufig suchen auch Elternteile Hilfe, wenn Kinderpornografie beim anderen Elternteil gefunden wurde“, sagt Kreye.
Generell steigen die Anfragen, die die Fachstelle erreichen. Sarah Kreye und ihr Team führen dies jedoch nicht auf eine steigende Zahl an Fällen zurück, sondern darauf, dass sexualisierte Gewalt zunehmend sichtbarer werde und die damit verbundenen Hilfsangebote bekannter. Momentan genügen die Kapazitäten der Fachstelle noch, es sei aber absehbar, dass das nicht mehr lange so sein wird, sagt die Psychologin.
Wir beobachten, dass es immer mehr Schüler*innen schaffen, den Kontext Schule auch als Hilfe-Ort zu sehen.
Den Kontakt zur Fachberatungsstelle finden betroffene Kinder und Jugendliche häufig durch Jugendämter, Lehrer oder Schulsozialarbeitende. „Wir beobachten, dass es immer mehr Schüler*innen schaffen, den Kontext Schule auch als Hilfe-Ort zu sehen. Dann kann eine Vermittlung an uns stattfinden“, so Kreye.
Generell strebe die Fachstelle an, für Kinder und Jugendliche auch ohne Unterstützung durch Erwachsene leichter erreichbar zu werden. Insbesondere das Chat-Angebot sieht Sarah Kreye wegen seiner Niedrigschwelligkeit als besonders wichtig an, um dies zu ermöglichen: „Das ist eben der Weg, wie Jugendliche heute kommunizieren – die rufen fremde Leute nicht einfach an“.
Um unter anderem dieses Angebot bekannter zu machen, habe man Postkarten mit Informationen zur Fachstelle an alle Schulen des Rhein-Sieg-Kreises sowie an Kinderärzte verschickt. Die Präsenz in sozialen Medien gestalte sich verwaltungstechnisch schwierig.
Die Mitarbeitenden der Fachstelle rechnen damit, dass es viel mehr Betroffene gibt, als sie mitbekommen. Vor allem Jungen seien gefährdet, da ihnen oft weniger geglaubt werde und das Thema sehr schambesetzt sei. „Es passiert ganz viel sexualisierte Gewalt in unserer Gesellschaft, in allen Schichten und in allen Altersgruppen“, sagt Sarah Kreye, „der echte Bedarf, den es geben wird, und der auch eine sehr, sehr hohe Dunkelziffer mit sich bringt, den würden wir niemals bewältigen können“.
Die Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen, Mühlenstraße 49 in Siegburg, ist telefonisch unter 02241 133050 oder per E-Mail an fsg@rhein-sieg-kreis.de erreichbar.
Die Sankt Augustiner Fachstelle gehört zum Fachdienst Familienberatung im Eibenweg 2 und ist unter 02241 28482 oder familienberatung@sankt-augustin.de erreichbar.
Die Spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend in Niederkassel ist unter 2208 73774 oder per E-Mail an familienberatungsstelle@niederkassel.de erreichbar.