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„Wer hat, kann teilen“Erftstädter Ärztin gibt Tipps zur Selbstfürsorge

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Eva Kalbheim hat ein Buch darüber geschrieben, wie man sich selbst stärken kann.

Erftstadt-Liblar – Dr. Eva Kalbheim ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und stellvertretende Leiterin der Klinik in Schloss Gracht in Liblar. Ulla Jürgensonn hat mit ihr über ihr neues Buch „Selbstfürsorge für Dummies“ gesprochen.

Frau Dr. Kalbheim, zwei Corona-Jahre mit sozialen Einschränkungen, die Hochwasserkatastrophe, dann noch Krieg – das macht selbst robuste Menschen fertig. Kann Selbstfürsorge da noch helfen?

Eva Kalbheim: Katastrophen, Sorgen und Ängste gehören zum Leben dazu, und die Menschen gehen unterschiedlich damit um: Der eine informiert sich möglichst umfassend, die andere versucht, sich abzulenken, ein Dritter zieht sich zurück. All diese Strategien sind angemessen, solange sie dazu beitragen, dass man nicht den Kopf verliert. Denn Panik hilft nicht bei der Angstbewältigung. Es gilt, einen eigenen Weg zu finden, um die Sorgen unter Kontrolle zu bekommen: Horchen Sie in sich hinein und finden Sie heraus, was Sie jetzt brauchen, um körperlich und seelisch gesund zu bleiben. Sprechen Sie mit vertrauten Menschen, benennen Sie Ihre Ängste, sorgen Sie gut für sich. Suchen Sie sich einen Bereich, in dem Sie aktiv werden können, um ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit zu bekommen. Vielleicht engagieren Sie sich in der Nachbarschaft oder einer Bürgerinitiative, spenden Geld oder Hilfsgüter, unterstützen Schwächere oder beteiligen sich an einer Demonstration.

Manchmal scheint es, als sei die beste Selbstfürsorge, keine Nachrichten mehr zu schauen oder zu lesen. Kann das die Lösung sein?

Es ist höchst sinnvoll, die Nachrichtenmenge zu filtern. Wer sich allen Informationen Tag und Nacht aussetzt, läuft Gefahr überflutet zu werden. Prüfen Sie, wie viele und welche Nachrichten Sie benötigen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Blenden Sie aus, was Ihnen schadet oder Sie in Unruhe versetzt. Dosieren Sie die Nachrichtenflut individuell und versuchen Sie, sich insbesondere abends vor dem Schlafengehen auf positive Informationen zu fokussieren.

Fünf Tipps gegen Verzweiflung

Atmen Sie tief in den Bauch ein und langsam durch den leicht geöffneten Mund aus. Die tiefe Bauchatmung erdet und gibt innere Ruhe.

Denken Sie an drei gute Dinge, etwa einen lieben Menschen, Ihr Haustier, einen Ferienort, ein besonders gutes Essen oder einen farbenfrohen Sonnenuntergang. So fokussieren Sie sich auf das Gute im Leben.Reden Sie mit vertrauten Menschen. Sprechen hilft!

Lenken Sie sich ab. Hören Sie Musik, gehen Sie spazieren, schauen Sie einen Film an oder gehen Sie Ihren Hobbys nach. Ablenkung sorgt für eine Pause in der Seele.

Werden Sie aktiv. Engagieren Sie sich für andere, bringen Sie sich ein. Das erhöht Ihr Selbstwirksamkeitsgefühl und verringert das Gefühl der Hilflosigkeit. (uj)

Manch einer empfindet Selbstfürsorge als Egoismus angesichts des Leides anderer Menschen. Ist das ein Trugschluss?

Selbstfürsorge ist die Grundlage für Fremdfürsorge: Nur wer sich gut um sich selbst kümmert, kann auch andere Menschen umsorgen. Wenn die eigenen Ressourcen immer wieder aufgefüllt werden, bleibt genügend Energie für andere Menschen übrig. Wer hat, kann teilen – wer ausgebrannt ist, kann nichts mehr geben. Selbstfürsorge ist darauf ausgerichtet, dass jeder sich selbst gibt oder nimmt, was er benötigt – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Selbstfürsorge heißt für mich, achtsam mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen umzugehen. So fördern Sie Ihre Potenziale und können diese zum Wohle der Allgemeinheit einsetzen.

Einige Ihrer Ratschläge klingen nach Luxus. Wer nach der Flut mit Kindern in einer entkernten Wohnung sitzt, kann sich nicht in der Badewanne entspannen. Was sagen Sie Menschen in solchen Extremlagen?

In Katastrophen und Krisen geht es zunächst ums Überleben. Dann brauchen die Betroffenen Zeit und Raum, um ihre körperlichen oder seelischen Verletzungen zu heilen. Nehmen Sie Hilfe an, gestehen Sie sich Schwäche zu, gehen Sie nicht über Ihre Kräfte, sondern gönnen Sie sich Pausen und Rückzug. Sprechen Sie mit Gleichbetroffenen und unterstützen Sie sich gegenseitig. Fokussieren Sie Ihre Aufmerksamkeit und Energie auf das, was Sie verändern können, und akzeptieren Sie, worauf Sie keinen Einfluss haben. Nehmen Sie sich Zeit für Ihre Familie und Ihre Freunde, denn in Gemeinschaft sind schwierige Situationen besser zu ertragen. Die Verarbeitung einer Extremlage kann Wochen oder Monate dauern – zwingen Sie sich nicht, wieder alltagstauglich zu sein, wenn Sie noch unter den Folgen einer Katastrophe leiden. Suchen Sie Unterstützung beim Arzt, einer Therapeutin, der Telefonseelsorge oder in einer Selbsthilfegruppe.

Ist in schwierigen Zeiten wie diesen Selbstfürsorge besonders wichtig? Oder mobilisiert der Mensch nicht gerade dann von allein alle Kräfte?

Schon seit der Steinzeit tragen die Menschen ein Überlebensprogramm in sich – das „Kampf-oder-Flucht-Programm“. Es sorgt dafür, dass wir rasch innere Energie mobilisieren, uns in Sicherheit bringen oder gegen eine Bedrohung kämpfen. Dabei laufen wir auf Autopilot und funktionieren, ohne nachzudenken. Irgendwann sind die inneren Reserven aber aufgebraucht und wir brauchen eine Pause, um uns zu regenerieren. Hier setzt die Selbstfürsorge an: Rückzug, Schlaf, bewusste Entspannung und Auffüllen der eigenen Ressourcen. Wer unter Dauerstress steht und keine Zeit oder Gelegenheit hat, sich zu entspannen, wird krank.

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Selbstfürsorge klingt ein bisschen resignativ: Sorge für dich selbst, es tut sowieso kein anderer. Ist nicht ein soziales Umfeld die beste Fürsorge?

Selbstfürsorge bringt Lebensfreude, und die gewinnen Menschen aus unterschiedlichen Quellen. Dazu gehören insbesondere zwischenmenschliche Beziehungen, aber auch die Natur, Hobbys, Sport, Körperpflege, leckeres Essen, geistige Nahrung wie Literatur, Kunst und Musik, die Horizonterweiterung durch Reisen und Sprachenlernen, Ruhe und Besinnung durch Meditation, spirituelle Erfahrungen und Religion, Nächstenliebe und der Blick über den eigenen Tellerrand. Nehmen Sie sich jeden Tag Zeit für Aktivitäten, die Ihnen guttun und Ihre seelische Balance erhalten. Achten Sie darauf, wann Ihre Batterien leerlaufen, und gönnen Sie sich immer wieder Pausen.