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„Wir sind das Volk!“Kürtenerin war bei Leipziger Montagsdemos 1989 dabei

Lesezeit 3 Minuten

Mit Gebeten und Kerzen machten sich auch die jungen Leute auf.

Kürten/Leipzig – Es war ein großes Risiko, das die Demonstranten an jenem 9. Oktober 1989 eingingen, als sie sich dem immer länger werdenden Demonstrationszug durch die Leipziger Innenstadt anschlossen und „Wir sind das Volk!“ skandierten.

Mittendrin in der Menschenmenge auch ein junges Mädchen, gerade einmal zwölf Jahre alt: Beatrix Hünniger, die damals noch Beatrix Lerpscher hieß, Arm in Arm mit ihrem 13 Jahre alten Bruder. „Ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke“, sagt die heute 44-Jährige. Sie lebt schon lange nicht mehr im sächsischen Leipzig, sondern seit 2001 im bergischen Kürten.

„Ein bisschen mehr Freiheit, über den Tellerrand schauen“

An diesem 9. Oktober vor 32 Jahren ahnte sie nicht, dass sie ein Stück deutsche Geschichte mitschreiben würde. „Aber wir hatten schon das Gefühl, mutig zu sein“, erinnert sie sich. Denn die Angst marschierte mit: „Wir wussten ja nicht, wie die Sicherheitskräfte reagieren würden, die Volkspolizisten standen überall zwischen uns – auch die linientreuen Lehrer unserer Schule – und beobachteten uns.“

Vater und Onkel waren schon vorher mehrfach auf die Straße gegangen. „Sie wollten einfach ein bisschen mehr Freiheit, die Möglichkeit, über den Tellerrand hinauszuschauen“, erklärt Beatrix Hünniger die Motive. Die in Leipzig beheimatete Schaustellerfamilie, aus der sie stammt, war ständig auf Achse, zog von Kirmes zu Kirmes, unabhängig und freiheitsliebend, und kannte die engen Grenzen der DDR.

Läden entlang der Demo geschlossen

„Sie wollten mitgestalten, dafür gingen sie auf die Straße“, sagt die Tochter. Und als der Vater am 9. Oktober fragte, ob sie mitkommen wollte, da war die Zwölfjährige sofort dabei. „Meine Mutter war entsetzt und hat schreckliche Ängste ausgestanden“, erzählt die Krankenpflegerin, „aber wir wollten das unbedingt erleben.“

Heute, selbst Mutter von drei Kindern, kann sie die Gefühle ihrer Mutter nachempfinden. „Wir wussten ja nicht, schlagen die jetzt los oder nicht?“ Eine Angst, die viele teilten, an diesem Abend. Die Läden entlang des Demonstrationszuges waren vorsichtshalber geschlossen und verbarrikadiert, „es wirkte gespenstisch“. Doch die Demonstration nahm einen friedlichen Verlauf. Noch heute ist nicht völlig geklärt, wieso die DDR-Machthaber die Demonstranten gewähren ließen.

„Meine Mutter ließ einen Teller fallen“

„Irgendwann fingen die Ersten an zu rufen: »Wir sind das Volk!«“, schildert die 44-Jährige ihre Erinnerung an den historischen Marsch. „Dann warfen einige Polizisten Jacke und Mütze weg und gingen mit uns“, erzählt sie, und es ist ihr heute noch anzusehen, wie bewegend das damals für die Zwölfjährige war. „Am Ende hatten wir Tränen in den Augen, dass alles gut gegangen war“, sagt sie.

Heute ist Beatrix Hünniger stolz darauf, dabeigewesen zu sein bei der Initialzündung für die Friedliche Revolution, an deren Ende die deutsche Wiedervereinigung stand. Das schönste Erlebnis sei für sie aber erst einen Monat später gekommen, am Abend des 9. November 1989. „Wir waren gerade beim Abendessen, als die Nachricht kam. Meine Mutter ließ einen Teller fallen und rief: »Die Grenzen sind auf!«“

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Noch am gleichen Abend setzte sich die Familie in ihren Trabi und fuhr gen Westen: Ein Spontanbesuch beim Onkel im nordrhein-westfälischen Hagen. „So einfach über die Grenze zu fahren, das war schon ein komisches Gefühl“, erinnert sich Beatrix Hünniger.

Im Herbst 1989 war sie noch auf einigen Demonstrationen, bevor die DDR aufhörte zu existieren. „Aber das erste Mal, das war mit der meisten Angst“, sagt sie. Gelohnt habe es sich allemal. Denn eine Erkenntnis sei geblieben: „Es ist wichtig, den Mund aufzumachen und für sich selbst einzustehen, egal wo und egal wie alt man ist.“