Mit einem Hilfskonvoi in Gladbachs ukrainischer Partnerstadt Butscha: Im letzten Teil unserer Reportage-Serie werfen wir einen Blick hinter die Kulissen des sechsten Hilfskonvois.
Hilfskonvoi nach ButschaZwischen Luftalarm und Hoffnung in Bergisch Gladbachs Partnerstadt
Der Sirenenton aus dem Handy ist laut und durchdringend, selbst wenn das Mobiltelefon auf „Stumm“ geschaltet ist. „Achtung, Luftalarm, gehen Sie zum nächstgelegenen Bunker“, sagt eine Stimme auf Englisch.
Viele der Fahrer, die den jüngsten Hilfskonvoi aus Bergisch Gladbach in die ukrainische Partnerstadt Butscha bringen, haben sich die Luftalarm-Warnapp schon Tage vor der Abfahrt auf ihr Handy heruntergeladen. Um sich daran zu gewöhnen. Schon jetzt ein bedrückendes Gefühl, nachts geweckt zu werden und zu wissen, dass jetzt im Moment vielleicht Raketen oder Drohnen über Butscha fliegen, die Leuchtspuren der Luftabwehr in den Himmel steigen. Und dabei ist all das ja noch 2000 Kilometer weit weg. Noch.
„Die Lage ist nicht ganz so der Knaller“, formuliert es Bergisch Gladbachs Feuerwehrchef Jörg Köhler drei Tage vor der Abfahrt in einer kurzfristig anberaumten Videokonferenz. Jeder der ehrenamtlichen Fahrer soll sich noch einmal überlegen, ob er mitfahren möchte und sonst am nächsten Tag Bescheid geben. Niemand wäre demjenigen gram. Doch niemand sagt ab.
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„Ich setze auf die ukrainische Luftabwehr“, sagt Frank Haag. Auch der Vorsitzende des Partnerschaftsvereins hat sich mit seiner Familie besprochen und bleibt im Fahrerteam. Er weiß, wie sehr die Partner in Butscha darauf hoffen, dass der sechste Hilfskonvoi aus Bergisch Gladbach endlich auch bis in die ukrainische Partnerstadt durchfahren wird – für sie ein Zeichen dafür, dass die russischen Angreifer es nicht geschafft haben, dass sich andere von Angst beherrschen lassen.
Trotzdem: Die Stimmung ist anders diesmal bei der Abfahrt mit sieben Lkw und Mannschaftstransportwagen mitten in der Nacht vom Zanders-Gelände im Herzen Gladbachs. Kreisdechant Norbert Hörter ist vorbeigekommen, betet mit den Fahrern für baldigen Frieden – und eine sichere Rückkehr. Auch wer nicht religiös ist – das berührt wohl jeden.
Zum Nachdenken allerdings ist erstmal nicht allzu viel Zeit. Jetzt heißt es: Kilometer machen, in den Fahrzeugteams abwechselnd fahren und schlafen. Irgendwo hinter Krakau sind für den Abend Hotelzimmer gebucht. Danach ist nichts mehr planbar, zumal alle von vorherigen Konvois wissen, wie unberechenbar langwierig die Ausreise aus der EU in die Ukraine sein kann. Am nächsten Morgen soll’s zu Grenze gehen.
Einen Moment noch sitzen am Abend alle zusammen. „Wir fahren in ein Land, in dem Kriegsrecht gilt. Das heißt: Alles, was oliv-grün ist, hat Vorrang“, mahnt Hajo Kunz, der bei der Gladbacher Feuerwehr in der Psychosozialen Unterstützung der Einsatzkräfte engagiert ist.
Obwohl wir am nächsten Morgen früh an der Grenze sind, ist die Ukraine noch unendlich weit weg. Trotz Priorität-Registrierung dauert es am Ende fast 24 Stunden, bis der Hilfskonvoi durch die Warteschlange und Grenzabfertigung ist.
Anderseits: Die meisten ukrainischen Fahrer „normaler“ Lkw, die hier warten, stehen teils schon seit Tagen auf dem proppenvollen Rastplatz vor der Grenze.
Auf großen Anzeigetafeln sind hunderte Kennzeichen gelistet. Erst wenn das eigene grün aufleuchtet, darf man zur Grenze vorfahren.
Jetzt zahlt es sich aus, dass die Konvoi-Vorbereitungscrew um Timo Stein, Nicole Haag und Christian Fischer Zollpapiere, Fahrzeuge und Ausrüstung perfekt vorbereitet hat. Für die Selbstversorgung sind sogar Tische, Bänke, Kochplatte, Suppe und andere Verpflegung parat – und selbst die vor der Fahrt noch belächelten Quartettspiele kommen nach dem ersten halben Tag Warten zum Einsatz.
In der Grenzabfertigung treffen wir ukrainische Soldaten, die mit quietschbunten Grundschulbussen auf dem Weg in Richtung Westen sind. „Ausbildung in Polen und Deutschland an den Waffen, die ihr uns liefert“, sagt einer.
Fast einen Tag später als ursprünglich geplant rollt der Konvoi am Posten mit dem Schnellfeuergewehr aus der Grenzabfertigung in die Ukraine.
Immerhin sind die Straßen in Richtung Kiew besser als befürchtet, einige zerstörte Brücken einmal ausgenommen. An jeder noch so kleinen, aber nicht unwichtigen Brücke gibt es jetzt Brückenwachen. Zum Schutz vor Sabotage, wie uns Butschas Vize-Bürgermeisterin Mykhailyna Shoryk-Shkarivska später erklärt.
Ihr zweiter Mann hat auch so eine Brücke zu verteidigen, ihr erster ist 2014 gefallen – beim russischen Angriff auf die Krim. „Der Krieg hat nicht erst im Februar 2022 angefangen“, sagt sie bestimmt.
Nach dem herzlichen Empfang mit beinah unwirklichen Opernsänger-Auftritten während des Abendessens und einem Tag, an dem uns die Partner in Butscha ihren unbändigen Wiederaufbauwillen an allen Ecken der Stadt auch mit Fahrzeugen und Gerät früherer Konvois aus Gladbach zeigen, geht’s am zweiten Tag in die Vororte – und aus der scheinbar heilen Welt hinaus.
Ausgebrannte Ruinen säumen die Straßen, von Raketen aufgerissene Hochhäuser, in denen Wohnungseinrichtungen jetzt an Abgründen stehen. Wie viele Menschen hier starben, ganz genau kann das niemand sagen.
„Help to restore our house“ (Hilf, unser Haus wieder aufzubauen) hat jemand an sein Tor geschrieben. Auf dem weiteren Weg in den beim Sturm auf Kiew stark zerstörten Vorort Irpin zeigt uns Tetiana Rybakova, die im Sommer mit 30 Schülerinnen und Schülern nach Bergisch Gladbach kommen wird, Menschen, die zu ihren zerstörten Häusern zurückgekehrt sind und sich jetzt erstmal einen Wohncontainer neben die ausgebrannte Ruine setzen lassen. Ans Aufgeben denkt hier niemand.
Auch nicht an der Gedenkstätte auf eine beim Angriff auf Kiew hart umkämpften Anhöhe. Um einen Schützengraben und Blumengestecken für gefallene Soldaten, deren Bilder an den Bäumen hängen, haben Angehörige eine Gedenkstätte eingerichtet.
Kurz darauf treffen wir den Bauunternehmer Viktor Krupii, der den ersten Gladbacher Hilfskonvoi vor einem Jahr an der polnisch-ukrainischen Grenze in Empfang nahm und mit seinen Leuten dann in die Partnerstadt steuerte. Er geht vor in ein vormals wohl stattliches Gebäude mit Geschäften und Büros. Jetzt hängt die zerschossene Fassade herunter, im Inneren nur noch Ruß an den nackten Wänden.
Ob das Haus abgerissen werde? Viktor Krupii winkt ab: „Das ist Beton, das machen wir sauber und bauen es wieder auf.“ – „Hier gibt niemand auf“, sagt Gladbachs Bürgermeister Frank Stein beeindruckt.
Nicht nur bei ihm wirkt das Gesehene nach, als die Gastgeber am Abend zum Essen einladen und danach bitten, dass wir etwas singen. „In unserem Veedel“ könnten wohl alle. Aber kann man hier singen? Im Krieg? Vor Menschen wie Tetiana Rybakova, deren Mann in Bachmut kämpft? Die Mutter zweiter Kinder zögert nicht lang: „Man kann!“, sagt sie mit fester Stimme.
Als vor Weihnachten ein Weihnachtsbaum in Butscha aufgestellt wurde oder jüngst der städtische Marathon wieder veranstaltet wurde, habe sie ihren Mann am Telefon gefragt, ob sie denn überhaupt feiern dürften. „Ihr müsst“, habe er gesagt. „Ihr müsst leben. Dafür machen wir das hier doch alles.“
Mancher Konvoifahrer hat an diesem Abend die Tränen nicht unterdrücken können. Und wohl keiner würde zögern, beim nächsten Konvoi wieder bis nach Butscha „durchzuziehen“.
Jeder Cent zählt doppelt
17 000 Euro sind für die Verdoppelungsaktion der Bethe-Stiftung bislang eingegangen, dabei würde die Stiftung bis zu 50 000 Euro verdoppeln. „Wir können dringend noch Spenden gebrauchen, um die Hilfe fortsetzen zu können“, sagt der Schatzmeister des Partnerschaftsvereins Bergisch Gladbach – Butscha, Albert Heider, und wirbt für die Verdoppelungsaktion. Spendenkonto und die Möglichkeit, via PayPal zu spenden, auf der Internetseite des Vereins oder unter Telefon: (02202) 7 05 92-00 www.butscha.gl12 000 Euro kosten allein Diesel, Verpflegung und eine Übernachtung für eine n Hilfskonvoi von Gladbach nach Butscha, wobei die Fahrer allesamt ehrenamtlich tätig sind und zwei Fahrtnächte im Auto campiert haben. 30 Fahrzeuge für die Partnerstadt haben die sechs Hilfskonvois aus Bergisch Gladbach binnen einen Jahres bereits nach Butscha gebracht, darunter allein elf Busse. Hinzu kommen etliche Tonnen Hilfsgüter, die mit Sattelzügen und Lkw Richtung Butscha gebracht wurden. (wg)