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Flut-Gedenken in MetternichDas Wasser, der Geruch, die Trauer – und eine Liebesgeschichte

Lesezeit 6 Minuten
Michael Freiherr Spies von Büllesheim hält eine Rede, an Tischen sitzen Metternicher und hören ihm zu.

Eigentlich, so dachte Ortsbürgermeister Michael Freiherr Spies von Büllesheim, dürfte es kein Problem sein, die Eröffnungsrede zu halten. Doch als er dann zu sprechen begann, konnte er die Tränen nicht zurückhalten.

Nach der Flut hatten die Metternicher ein Buch herausgebracht. Jetzt trafen sich die Betroffenen noch einmal im Kulturhof Velbrück.

Wie in einer Kapsel sitzen die Erinnerungen an die Metternicher Flutnacht in Dorthe Schönekäs' Gedächtnis. „Irgendwo in mir, da ist dieser Kasten. Und der Deckel ist die meiste Zeit geschlossen. Aber wenn ich mich entscheide, ihn zu öffnen, dann ist alles wieder da – und zwar gestochen scharf. Das Wasser, der Geruch, die Farben.“ Oft werde ihr von Bekannten gesagt, sie müsse loslassen, sich darauf besinnen, nach vorne zu schauen, und das Positive zu sehen. „Aber das hat damit gar nichts zu tun“, sagt Schönekäs.

Natürlich sehe sie das Schöne, die Solidarität und den Fortschritt. Natürlich sei sie in ihrem Leben längst wieder im Alltag angekommen. Aber diese Erinnerung, da ist sie sich sicher, wird in aller Schärfe und Klarheit abrufbar bleiben. Dorthe Schönekäs ist eine der Autorinnen des Buches „Metternich in der Flut – Augenzeugen erzählen“. Neben 49 anderen Metternichern hat sie für das vom Kulturhof Velbrück und Marietta Thien herausgegebene Buch ihre Erinnerungen an die Flutnacht vom 14. und 15. Juli 2021 aufgeschrieben.

Metternicher haben ihre Geschichten längst noch nicht zu Ende erzählt

Am Montag, 15. Juli, haben sich die Autoren und Betroffenen zum Jahrestag des Hochwassers nun wieder im Kulturhof Velbrück getroffen. Drei Jahre nach der Katastrophe und zwei Jahre nach Erscheinen des Buches zeigte sich: Die Metternicher haben ihre Geschichten längst noch nicht zu Ende erzählt.

Alles zum Thema Steinbachtalsperre

Nach außen hin, sagt Schönekäs, werde nur noch wenig berichtet. Es sei auch anstrengend, den „Leuten von draußen“ zu erklären, wie farblos der Himmel am Tag nach der Flut war und in welcher alles verschluckenden Dunkelheit sich in der Nacht alles abspielte. „Aber wir hier, wir wissen Bescheid“, sagt sie und schaut sich im Veranstaltungsraum des Kulturhofs Velbrück um: Mehr als 50 Metternicher sitzen an den Tischen.

Ein Mann zeigt Bilder auf seinem Handy.

Ein unerschöpflicher Fundus an Flutvideos und -fotos ist auf dem Handy abgespeichert.

Anne Klöters sitzt auf einem Stuhl und trägt Gedichte vor.

Flutgedichte und Anekdoten trug Anne Klöters den Metternichern sogar am Mikrofon vor.

Sie essen Kartoffelsalat und Würstchen mit Senf. Einige trinken Wein, lachen zusammen, bekommen kurz darauf dann doch wieder feuchte Augen und werden still. Wenn man zusammensitze und spreche, sagt Schönekäs, dann erwecke man ineinander vergleichbare Bilder, ohne viele Worte benutzen zu müssen. Häufig gehe es um Erinnerungsfetzen und Details.

An ein leuchtend rotes Detail der Flutnacht erinnert sich etwa Anne Klöters: „Ich lief vollbepackt die Straße entlang und wurde von einem kleinen roten Auto verfolgt.“ Als der Fahrer auf Klöters' Höhe war, kurbelte der das Fenster hinunter und rief ihr zu: „Badeanzug nicht vergessen!“ Klöters war außer sich. Und Gisela und Guido Schmidt dankbar, die weitere Gaffer an der Bergstraße aufhielten.

In der Erinnerung leuchten heute noch die roten Gummistiefel

In Heike Carstensens Erinnerung leuchten bis heute die roten Gummistiefel ihrer Enkeltochter. Nur in Schlüpfer, Unterhemd und diesen Stiefeln lief sie im Hotel ihrer Großeltern, dem Hotel „Zum Schwan“, umher. Die Gäste hatten mitangepackt und alles, was zu retten war, übereinander gestapelt.

Ich lief vollbepackt die Straße entlang und wurde von einem kleinen roten Auto verfolgt.
Anne Klöters

Carstensen: „Wir hatten ein volles Haus. Zufälliger- und glücklicherweise alles Monteure.“ Die Enkelin tobte zwischen der geretteten Bettwäsche und den Handtüchern. „Ein richtiges El Dorado zum Spielen für sie“, sagt Carstensen. Ihr Mann Jörg scrollt derweil auf seinem Handy und zeigt ein Flutvideo und -foto nach dem anderen. Sein Fundus scheint unerschöpflich.

Auf einem Video stehen die Häuser an der Meckenheimer Straße in einem reißenden, braunen Fluss. Ein Auto wird mitgerissen. „Gleich“, sagt Carstensen. „Gleich kracht es in die Häuserwand.“ Carstensen wird für einen kurzen Moment ganz still und lässt das Video wirken. „Bumm!“, ruft er dann. Er lacht – aber das Lachen ist eher Reflex als Freude. So richtig nach Lachen sei ihm nämlich nicht zumute, sagt er. Aber er kann nicht anders.

Es sind die Details, die den Metternichern in Erinnerung bleiben

Das Detail, an das sich Ortsbürgermeister Michael Freiherr Spies von Büllesheim und Knyaz Gasoyan erinnern, sind zwei schwimmende Tische. Bei Spies von Büllesheim ist es der Tisch, der im Hof neben seinem Haus stand. In einem planlosen Aktivismus, erzählt er, habe er einen Esstisch auf Klötze gestellt, habe einen Schrank ausgeräumt und ihn auf den Tisch mit den Klötzen darunter gelegt.

Gleich kracht es in die Häuserwand.
Jörg Carstensen

Während er mit Sicherungsmaßnahmen beschäftigt war, schwamm alles Mögliche an ihm vorbei. Zum Beispiel ein Einkaufskorb. In seinem Bemühen, so viel wie möglich zu retten, legte er ihn auf den Tisch im Hof. Ebenso einen Papierhut und einen Winterstiefel. Alle drei Gegenstände schwammen während des Hochwasser auf dem Tisch über den Hof und blieben so tatsächlich von der Flut verschont.

Die Küken wurden in einem Korb vor der Flut gerettet

Etwas ganz Ähnliches erlebte Knyaz Gasoyan, der seit mehr als sechs Jahren seine Schafherde und Hühner in Metternich versorgt. „Aber zu dieser Zeit hatte ich auch kleine Küken“, sagt Gasoyan. Als es zu regnen begann, stellte er die Küken vom Boden auf den Tisch. „Fühlte sich irgendwie besser an“, sagte er. Obwohl er nicht ahnen konnte, was passieren würde.

Knyaz Gazoyan und seine Frau.

Knyaz Gazoyan rettete seine Familie, Schafe, Küken und half vielen verzweifelten Metternichern.

Marietta Thien zeigt das Flutbuch.

Im Flutbuch können die Geschichten der Metternicher Autoren im Gesamten nachvollzogen werden.

Als ihm klar wurde, dass dies kein normaler Regen werden würde, und die Leute schon munkelten, die Steinbachtalsperre könnte brechen, rettete Gasoyan die Schafe, eines nach dem anderen. Die Küken hatte er verloren geglaubt. Als Gazoyan alle Schafe in Sicherheit gebracht hatte und kraftlos den Stall verließ, sah er einen Tisch oben auf dem Wasser schwimmen. Darauf, war eine Schale, aus der es laut piepte. „Die Küken“, wusste Gazoyan.

Die Augen des Metternichers mit der Pack-an-Ausstrahlung werden glasig. Für Gasoyan bleibt das für immer ein magischer Flutmoment. All das, was die Leute in Metternich heute noch zu Tränen rührt, hat mit kleinen Wundern, magischen Momenten oder damit zu tun, wie die Leute durch die Flut zusammengerückt sind.

Die wunderschöne Liebesgeschichte können die Metternicher nicht oft genug hören

Während Spies von Büllesheim über die Solidarität in dem kleinen Ort spricht und in die Augen der Metternicher schaut, stockt er. Seine Tränen kann er nicht zurückhalten. „Und das, obwohl ich meine Rede heute Vormittag im Büro noch durchgegangen bin – da war es noch kein Problem“, sagt er.

Eine ganz besondere Geschichte über das Zusammenrücken erzählt auch Anne Klöters: Ihre Tochter und deren jetziger Mann kannten sich schon seit Kindesalter an, erzählt sie. Immer seien sie gut befreundet gewesen.

„Ich glaube, er hatte schon als Teenager Interesse an meiner Tochter.“ Doch ihre Tochter war erst zu jung für eine Beziehung, und dann hatte sie einen Freund. Anschließend wollte sie wegziehen, um auf eigenen Beinen zu stehen. „Aber sie hat ihn nie vergessen“, sagt Klöters. Als die Flut kam, kam auch die Tochter zurück nach Metternich – um ihren Eltern zu helfen.

Dort traf sie auf ihren Kindheitsfreund mit seinem Radlader. Zwischen Schutt, den Habseligkeiten der Eltern und Nachbarn verliebten sie sich. Seit einem Jahr sind die beiden verheiratet. Die Frauen an Klöters' Tisch seufzen. Diese Geschichte können sie nicht oft genug hören.