1,2 Millionen SchicksaleDeutsches Rotes Kreuz klärt nach Zweitem Weltkrieg auf
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Schleiden-Vogelsang – „Die Zahlen und Zustände von damals – für uns heute unvorstellbar“, stellt Rolf Zimmermann, langjähriger Kreisgeschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) fest: „Jeder hat damals jemanden gesucht!“ Eines der Kameradschaftshäuser auf dem Gelände der ehemaligen „NS-Ordensburg“ Vogelsang dokumentiert die Situation, mit der sich unzählige Menschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert sahen: die Suche nach Familienmitgliedern, deren Verbleib in den Wirren des Kriegs ungeklärt war.
Der Mann, der von der Front heimkehrte und nicht wusste, wo die nächsten Verwandten zu finden waren. Die Frau, die im Bombenhagel verschüttete Familienmitglieder vermisste, oder Kinder, die nach einem Luftangriff neben den zerstörten Häusern alleine aufgefunden wurden – Menschen wieder mit ihren Angehörigen zusammenzuführen, das war und ist bis heute Aufgabe des DRK-Suchdienstes.
Schicksale von rund zwei Millionen Menschen
In den 200 Buchbänden, die im DRK-Museum in Vogelsang im Regal stehen, sind die Schicksale von rund zwei Millionen Menschen beschrieben, die nach Kriegsende vermisst wurden. „Das ist aufgeteilt nach Zivilisten und Militärs“, erklärt Zimmermann. Bei den Militärs sei neben den Angaben zur Person aufgeführt, wo sie ihren letzten bekannten Einsatzort hatten.
Jede Kreisstelle – hier seien es Euskirchen und Schleiden gewesen – habe einen kompletten Satz dieser Suchdienstbücher vorrätig gehabt, so Zimmermann: „Das waren mehr als 500 Sätze bundesweit. Es gab noch keine Computer, nix Digitales.“ Transportmittel seien keine mehr vorhanden gewesen, die Rheinbrücken zerstört, Ämter waren praktisch nicht mehr vorhanden. „Die Frage war: ’Wie kommen wir wieder zusammen?’. Das, so Zimmermann, sei keine Aufgabe gewesen, die wie heute innerhalb weniger Tage erledigt gewesen sei. „Das dauert Jahre!“
Wo war derjenige zuletzt? Wo wurde er gefunden?
Dabei waren die Suchdienstbücher von damals bereits eine Verbesserung zu vorherigen Sammlungen, die dem Auffinden von Vermissten dienten. Diese Sammlungen hatten aus langen Reihen mit Karteikarten bestanden, auf denen die Schicksale der Menschen beschrieben waren. Wo war derjenige zuletzt? Wo wurde er gefunden?
In Genf gebe es eine Ausstellung vom Ersten Weltkrieg. Diese beinhalte eine Sammlung von 14 Millionen Karteikarten. Die in Vogelsang aufbewahrten Suchdienstbücher sind laut dem ehemaligen Kreisgeschäftsführer bereits die zweite Ausfertigung.
Suchanfragen bis heute
In der ursprünglichen Version handelte es sich noch um reine Namenslisten – und zwar auf Englisch. Aus einem bestimmten Grund, wie der 67-Jährige weiß: „Die Besatzer hatten Angst, dass die Deutschen neue Truppen sammeln wollten. Damit das nicht unkontrolliert ablief, mussten die Bücher unter Aufsicht der Militärregion erstellt werden.“
Mitte der 1950er-Jahre seien dann die Bücher mit den Bildern eingeführt worden. Die Suche war dennoch ein schwieriges Unterfangen. Zimmermann: „In der frühen Nachkriegszeit war alles zerstört.“ Überall da, wo Flüchtlinge aufliefen oder zentral im Ort, wurde an Bretterwände gepinnt, wo jemand gesucht wurde. Im Radio liefen fast permanent Suchdienstnachrichten. „Man weiß, wer tot ist, man weiß, wer da ist, man weiß aber nicht, wo die sind, die gesucht werden“, gibt Zimmermann zu bedenken. Von Kindern sei häufig gar nichts bekannt gewesen, nicht einmal der Name, wenn sie zu klein waren.
Man habe „sich zusammengerauft“
Zusätzlich zu den Vermissten kamen aus den Oststaaten 13,2 Millionen Menschen auf der Flucht . „Wir reden über eine Million geflüchtete Menschen in 2015. Damals war hier alles im Eimer, und dann kommen 13,2 Millionen dazu. Und die waren auch nicht herzlich willkommen.“ Dennoch habe man „sich zusammengerauft“.
„Der Suchdienst ist klassische Rotkreuzarbeit, auch weltweit“, erläutert der 67-Jährige: „Die weltweite Zentrale sitzt in Genf beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes.“ Darüber hinaus gebe es in vielen Ländern zusätzlich einen Suchdienst. In Deutschland übernehmen zwei Zentralen, eine in München, eine in Hamburg, die Aufgabe. Dort gingen bis heute regelmäßig Anfragen auch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ein, weiß er zu berichten. Von den zwei Millionen Schicksalen habe man rund 1,2 Millionen bundesweit aufklären können.
„Trace the Face“ heute digitalisiert
„Trace the Face“ heiße das Verfahren heute, erklärt er weiter. Es sei digitalisiert und der Schwerpunkt habe sich massiv verlagert. Die Masse bestehe aus Anfragen aus Fluchtsituationen, bei denen Familien getrennt worden seien. Das, so Zimmermann, sei eine sehr sensible Arbeit, bei der man auch vieles falsch machen könne, wenn man etwa „den Flüchtling seinem ehemaligen Peiniger ausliefert“. Dem gegenüber stünden beinahe 150 Jahre an Erfahrungswerten beim Suchdienst. „Wenn man Familien wieder zusammenführen kann, ist das ein großes Glück“, sagt er.
Jungen Menschen fehle heutzutage häufig der geschichtliche Hintergrund zu der Situation in den Kriegs- und Nachkriegsjahren. „Man kann den Leuten nur eine Ahnung davon geben, wie chaotisch und traumatisch es damals war.“ Dafür sei es wichtig, den jungen Menschen die Thematik zeitgemäß begreifbar zu machen. Zimmermann: „Wir haben seit 75 Jahren Frieden. Jeder von uns kann jederzeit die Welt positiv verändern!“