Zwei Jahre nach der Flut werden im Gemünder IPSU-Zentrum 60 bis 70 Betroffene pro Monat psychologisch betreut, kontinuierlich kommen Neue hinzu.
Zwei Jahre danachPsychologen helfen Flutbetroffenen im Gemünder IPSU-Zentrum
Es ist nichts mehr so, wie es war. Das Leben wird nie mehr so sein, wie es vorher war. Vorher. Vor dem 14. Juli 2021. Die Erkenntnis ist hart. Sie kommt nicht von jetzt auf gleich. Es ist ein Trauerprozess erforderlich. Bewältigung. Das dauert. Das schafft nicht jeder für sich. Hilfe auf dem Weg bietet das sechsköpfige Team der Interkommunalen Psychologischen Unterstützung (IPSU) in Gemünd.
Es ist ein bewusst niederschwelliges Angebot, es heißt bewusst nicht Traumazentrum. Es ist zwei Jahre nach der Katastrophe weiter gefragt. Ein Ende der Arbeit ist nicht absehbar. „Was wir hier haben, ist einmalig in Deutschland“, sagt Frank C. Waldschmidt.
Er ist Psychotherapeut, sein Kollege Gerd Sebastian Psychologe und Sozialarbeiter. Beide Malteser sind erfahrene Krisenhelfer: Nach dem Zugunglück in Eschede sind sie in der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) im Einsatz, nach der Loveparade, nach der Elbeflut.
Wie hat die psychologische Arbeit nach der Katastrophe begonnen?
Im Schleidener Tal ist Waldschmidt seit den ersten Tagen nach der Flut. Sebastian hat da noch ganz andere Sorgen: Auch sein Haus hat die Flut in Dernau zerstört, im September hofft er wieder einziehen zu können. Im IPSU-Team ist Sebastian, der auf die Arbeit mit Jugendlichen spezialisiert ist, seit diesem Februar.
In den ersten beiden Wochen sind Notfallseelsorger und PSNV-Teams aus ganz Deutschland in den Flutgebieten – gut zu erkennen an den lilafarbenen Westen. Akuthilfe und Stabilisierung sind die Aufgaben. „Zum ersten Mal nach einer Katastrophe haben wir nicht gewartet, bis die Leute zu uns kommen. Sondern wir sind direkt auf sie zugegangen“, sagt Waldschmidt. Rund 2500 Gespräche werden alleine in dieser Zeit geführt.
Im folgenden halben Jahr wandelt sich die Arbeit zur Beratung. Alles ist noch improvisiert: Waldschmidt bietet Gespräche im Trauzimmer im Schleidener Rathaus an, seine Kollegen sind in der Realschule, in der Villa Poensgen. Im September 2021 ist Waldschmidt klar: „Das dauert länger hier.“ Er wendet sich an Bürgermeister Ingo Pfennings: „Wir brauchen eine Art Mini-Traumazentrum.“
Und nennt Essenzielles: zeitnah, ortsnah, kostenneutral, anonym, ohne Krankenkassenkärtchen. Das alles inklusive der Möglichkeit zur Langzeittherapie, die Regelversorgung könne diese Menge Betroffener schlicht nicht aufnehmen. Gesagt, getan. Die Arbeit wird nahtlos fortgesetzt, auch wenn es bis zur formellen Gründung der IPSU noch dauert.
Braucht jeder in den Flutgebieten im Kreis Euskirchen Hilfe?
Niemand, der die Flutnacht erlebt hat, wird sie wohl jemals vergessen. Professionelle Hilfe bei der Verarbeitung braucht deswegen längst nicht jeder. Für Experten wie Waldschmidt ist das normal: „Es sind archaische Programme in uns verankert, die wir im Alltag gar nicht kennen – und die dann abgerufen werden. Menschen können weit mehr aushalten, als man sich vorstellt.“ Sein Kollege Sebastian führt auch die dörflichen und sozialen Strukturen an, die bei der Bewältigung hilfreich gewesen sein dürften. Schicksalsgemeinschaft ist ein weiteres Stichwort.
Derartiges führt wohl auch dazu, dass die Statistik im Kreis widerlegt wird: Gemäß der Risikoanalyse in einer Kritis-Studie des Bundes ist davon auszugehen, dass nach einer Katastrophe rund 4,3 Prozent der Menschen wahrscheinlich ein Trauma erleiden. 8000 bis 9000 Menschen wären das im Kreis Euskirchen. „Die Zahlen sehen wir hier aber nicht“, so Waldschmidt.
Wer kommt jetzt ins Zentrum nach Gemünd?
Kann das IPSU-Team also seine Koffer packen und gehen? Mitnichten. 60 bis 70 Menschen kommen nun, zwei Jahre nach der Flut, pro Monat ins Zentrum. Ob das eine hohe oder niedrige Zahl ist, weiß niemand – es gibt weder Erfahrungswerte noch Vergleichsmöglichkeiten.
Wie lange die Hilfe dauert, ist unterschiedlich. Manchen ist mit sechs bis acht Gesprächen geholfen. Mit Beratung, mit Erklärung, dem Vermitteln einfacher Techniken. Etwa dem Einnehmen anderer Perspektiven oder dem Erfreuen an kleinen Fortschritten. Andere benötigen eine lange Therapie. Wie lange lang ist, weiß niemand vorher.
Dass Betroffene jetzt professionelle Hilfe suchen, verwundert die Experten nicht. Oft gibt es einen ganz praktischen Grund: Sie schließen ihren Wiederaufbau ab. Sie sitzen im Haus, das noch nicht wieder die sichere Burg ist, die es vor der Flut war. Die Ruhe bricht über sie herein, die Erschöpfung. Bislang haben sie sich keine Gedanken über sich selbst gemacht.
Dass Helfer jetzt Hilfe benötigen, verwundert sie nicht. Die einen haben bislang nichts von den Angeboten gewusst. Bei den anderen haben weitere Ereignisse im Leben zur Erkenntnis geführt, Hilfe zu brauchen.
Was brauchen junge Leute jetzt besonders?
Dass Jugendliche, 13 bis 19 Jahre alt, nun zur IPSU kommen, verwundert sie nicht. Gerade Jugendliche regeln nach Sebastians Erkenntnissen zunächst vieles unter sich. Danach sind Eltern, Lehrer oder Jugendgruppenleiter oft erste Ansprechpartner. Wenn es nicht besser wird, manifestiert sich so langsam der Gedanke, mal zum Profi zu gehen. Langsam, oft aus der Schule heraus, durch die Eltern. Aber zuerst ist eine Hemmschwelle zu überwinden: „Ich bin doch nicht bekloppt.“
Nein, bekloppt ist keiner. Ängste machen den jungen Leuten zu schaffen, sagt Sebastian, der über jahrzehntelange Erfahrung in der Arbeit mit Jugendlichen verfügt. Da ist die Flut nur ein Thema – neben Krieg, Klimakrise, Zukunftssorgen: „Diese Zeit muss den Jugendlichen doch Angst machen.“ Er hält kurz inne, denkt an seine Jugend: „In den 80ern hatten wir Waldsterben und Tschernobyl. Wir hatten auch Angst.“
Gerade die Arbeit mit Jugendlichen erfordert Zeit. Und Geduld. „Die Jugendlichen kommen oft im Schlepptau ihrer Eltern. Die wenigsten sind beim ersten Mal freiwillig hier“, sagt Sebastian. Acht bis zehn Sitzungen sind seiner Erfahrung nach mindestens nötig, um Vertrauen aufzubauen, bis der oder die Jugendliche zur Erkenntnis kommt: „Der ist gar nicht so doof. Mit dem kann man ja reden.“
Eine Sitzung pro Woche, zu einem festgelegten Termin, im Büro – all das hält Sebastian nicht für die Ideallösung. In seinem Haus in Dernau hat er bis zur Flut mit seiner Frau und bis zu sechs Jugendlichen zusammengelebt – und 24 Stunden Gelegenheit zur Therapie gehabt: „Krisen kommen immer abends oder am Wochenende. Aber nie zum festen Termin.“ Online-Angebote hätte die IPSU auch deswegen gerne gemacht. „Als datenschutzrechtlich alles geklärt war, blieben dafür im Prinzip nur E-Mails“, sagt Waldschmidt.
Jugendliche und E-Mails? Das hat man lieber direkt sein lassen. Ob mit dem bestehenden Angebot alle Jugendlichen erreicht werden, die Hilfe benötigen? Das weiß keiner. Für denkbar hält Sebastian es, dass der Bedarf noch höher ist – das Angebot in Gemünd will er nach den Ferien erneut in den Schulen publik machen.
Was hat im Schleidener Tal in der Hilfe nicht funktioniert?
Parallel zur Arbeit vor Ort hat eine Evaluation des Innenministeriums und der Medical School Hamburg begonnen. Was war sinnvoll? Was hat funktioniert? Und was nicht? Zu Letzterem nennt Waldschmidt die Nachsorgegruppen. Erstmals gearbeitet wurde damit nach dem Flugschau-Unglück von Ramstein 1988.
Die Spezialisten für den Umgang mit Angehörigen der Opfer waren im Schleidener Tal. Doch die Gruppen haben sich nicht gebildet. Zum einen könnte das daran gelegen haben, dass die Angehörigen der Toten teils nicht in der Region leben. Oder an der Tatsache, dass es sich um eine Naturkatastrophe gehandelt hat und derartige Gruppen nach durch Menschenhand ausgelösten Unglücken eher nachgefragt werden.
Wie geht es mit dem Zentrum in Gemünd 2025 weiter?
Bis Ende 2024 ist die IPSU finanziert. Und dann? Waldschmidt und Sebastian wissen, dass in der Katastrophenhilfe Strukturen auf Zeit aufgebaut und Maßnahmen beendet werden. Doch klappt das, wenn es um die Seelen geht? Wohl kaum. „Das Thema lässt sich nicht mit einem Projektende abschließen“, so Waldschmidt.
Auch wenn unklar ist, wie hoch der Bedarf in anderthalb Jahren ist, wünscht er sich vor allem Lösungen für diejenigen, die dann in langfristigen Behandlungen sind. Und, dass die nach der Flut gewonnenen Erkenntnisse für das psychosoziale Krisenmanagement für den Fall künftiger Katastrophen in den entsprechenden Landesgesetzen Einzug halten.
Der Ton wird rauer
In einer Schicksalsgemeinschaft haben die Menschen sich nach der Flut befunden. Es hat ein hohes Maß an Wir-Gefühl geherrscht, alte Rivalitäten haben keine Rolle mehr gespielt. In dieser Phase ist es möglich und unkompliziert, Projekte zu starten. „Doch das Zeitfenster ist schmal“, sagt Frank C. Waldschmidt.
Das Auseinanderbrechen derartiger Gemeinschaften ist nach Ansicht der Experten ebenso völlig normal. Wann das wo, warum und in welchem Maße geschieht, lässt sich jedoch nicht prognostizieren. Dass nach einer gewissen Zeit auch alte Rivalitäten, beispielsweise zwischen Orten, wieder aufbrechen und teils schlimmer als vor der Katastrophe sind, bezeichnen sie auch als normal. Die mühselige Suche nach einem Gedenkort in der Stadt Schleiden nennt Waldschmidt als ein Beispiel.
Dass der Ton insgesamt rauer wird, beobachten die Experten ebenfalls. Da können auch Neiddiskussionen aufkommen – etwa dann, wenn Menschen es geschafft haben, recht früh in ihre Häuser zurückkehren zu können. Die dörflichen Strukturen seien dann nach Gerd Sebastians Einschätzung Fluch und Segen zugleich. (rha)
HIZ und IPSU
- Die Kölner Straße 10 in Gemünd ist die gemeinsame Adresse des Hilfszentrums Schleidener Tal (HIZ) und der Interkommunalen Psychologischen Unterstützung (IPSU). Das Gebäude hat der Malteser Hilfsdienst gemietet.
- Im HIZ sind mehrere Organisationen vertreten, neben den Maltesern Caritas, Awo, Diakonie und Kreis. Sie bieten verschiedene Aspekte der Fluthilfe an: Unterstützung bei Wiederaufbauanträgen und Finanzhilfen aus den Spendentöpfen, auch Spieletreffs oder ein Café. Von Anfang an, so Frank C. Waldschmidt, haben die Organisationen sich ergänzt, „Futterneid“ habe es nicht gegeben.
- Die IPSU hat Anfang 2023 ihre Arbeit als Bestandteil des HIZ aufgenommen. Die Malteser betreiben es im Auftrag der Kommunen Hellenthal, Kall und Schleiden. Nutzen können die Angebote Menschen aus dem ganzen Kreis Euskirchen. Das Land NRW trägt 90 Prozent der Gesamtkosten in Höhe von knapp 600000 Euro.
- Kontakt per E-Mail oder per Telefon unter 02444/9129746. Die 24-Stunden-Hotline des Malteser-Hilfsdienstes ist erreichbar unter 06723/685767. Der Link zum freitags stattfindenden Online-Angebot „Kreative Entlastung und Stärkung“ ist auf der Facebook-Seite der IPSU zu finden. (rha)