Beim Gang durch Gemünd reflektiert Bürgermeister Ingo Pfennings die Flutkatastrophe und die zwei Jahre danach.
Zwei Jahre nach der FlutDie Wunden heilen langsam - aber sie heilen
Die Wunden heilen. Sie heilen langsam, aber sie heilen. Zwei Jahre nach dem Tag, an dem das Wasser kam, zeigt sich das von der Flut so hart getroffene Gemünd voller Kontraste: Neues, Aufbruchstimmung und Wiederaufbau auf der einen Seite. Schäden und Stagnation auf der anderen.
Dieser Kontrast wird beim Gang durchs Städtchen auch bei Ingo Pfennings deutlich: Als Macher, gerne als eine Art Hans Dampf in allen Gassen, will der Bürgermeister seine Stadt voranbringen. Zwischen Nepomuk-Platz und Urftsee mischen sich auch sehr nachdenkliche Töne in all die Pläne und Vorstellungen.
Die Gedanken an die schreckliche Nacht vom 14. zum 15. Juli 2021 kommen wieder hoch. An die Momente, als die Feuerwehr zuerst Oberhausen aufgeben muss, dann Malsbenden, dann das ganze Tal – die Retter haben keine Chance mehr gegen das wütende Wasser.
Die Flut schlägt eine 17 Kilometer lange Schneise der Verwüstung
Pfennings befürchtet, dass Hunderte Menschen sterben. Die Gedanken an den folgenden Morgen kehren zurück, als das Ausmaß der Katastrophe deutlich wird. Auch wenn sich die schlimmsten Ahnungen nicht bewahrheiten: Neun Menschen sind tot. Von Oberhausen bis Malsbenden zieht sich eine 17 Kilometer lange Schneise der Verwüstung durch das Schleidener Tal.
Der Berg an Aufgaben ist schier unüberblickbar. Tausende stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Sie müssen zuerst mit dem Nötigsten versorgt werden: Wasser, Nahrung, Kleidung, medizinische Versorgung. Pfennings und Beigeordneter Marcel Wolter bilden ein kongeniales Duo. Mit dem stark dezimierten, weil selbst betroffenen Team der Stadtverwaltung sowie ungezählten Helfern gehen sie die Mammutaufgabe an: Strukturen schaffen, aufräumen.
Der Schleidener Wiederaufbauplan umfasst 452 Maßnahmen
Heute dominiert der Aufbau das Geschehen. Als letzte Kommune im Kreis hat die Stadt Schleiden ihren Wiederaufbauplan eingereicht – es ist der umfangreichste: 452 Maßnahmen, 203 Millionen Euro. Zahlen verdeutlichen kaum, was das für die Menschen bedeutet. Und für die Mitarbeiter im Rathaus.
Der Bürgermeister sorgt sich um die 80-köpfige Verwaltungscrew. Viereinhalb Jahre Dauerbelastung hat sie hinter sich: Zuerst die Brandserie, dann Corona, dann die Flut, dann der Krieg und die Geflüchteten. Mehr Personal? Fehlanzeige. Ruhige Zeiten? Nicht in Sicht. „Ich weiß nicht, ob das gut geht. Ob wir die Leute nicht verbrennen.“
Und dann wird auch noch der Ton rauer. Unfähigkeit und Null-Bock-Mentalität werden den Mitarbeitern zuweilen vorgeworfen. Das macht den Chef richtig sauer: „Da vergessen einige, dass in der Verwaltung auch nur Menschen sind. Dabei wollen wir helfen. Vieles machen wir neben dem normalen Alltag.“ Wenn ihm selbst wahlweise vorgeworfen wird, nur der Bürgermeister der Gemünder, der Schleidener, fürs Tal oder für den Berg zu sein, ruft das eher ein müdes Lächeln hervor. Meistens jedenfalls.
Stadt Schleiden plant einen Mix aus Wiederaufbau und Neuaufbau
Im Spannungsfeld zwischen Wiederaufbau und Neuaufbau müssen Pfennings und sein Team ständig agieren. „Man könnte alles schnell, schnell machen. Aber dann werden alte Fehler nicht geheilt und neue Ideen nicht aufgegriffen.“ Der Kurpark ist so ein Beispiel, eines von vielen. Hier dürfte es auf einen Mix hinauslaufen:
Wenn der Stadtrat es beschließt, wird der Eingangsbereich etwas optimiert wiederaufgebaut – etwa mit einer multifunktionaleren Musikmuschel. Der hintere Bereich inklusive der Minigolfanlage erhält eine komplett neue Planung, gerne angelehnt an den Nationalpark.
In Gemünd fehlen ein Café und eine öffentliche Toilette
Neben den großen Maßnahmen sind es die vermeintlich kleinen Dinge, die noch fehlen, die zu bedenken sind. Auf der Dreiborner Straße spricht Karin Emunds den Bürgermeister an: Was denn mit einer öffentlichen Toilette sei? Die brauche Gemünd nun wirklich dringend. Menschen, die sie von ihrem Balkon aus an die Mauer des Eifel-Ardennen-Platzes urinieren sieht, sind wahrlich kein schöner Anblick. Und ein Café! „Die Leute fragen immer, wo sie denn eine Tasse Kaffee trinken können.“
Eine Patentlösung hat Pfennings weder für das eine, noch für das andere. Aber er macht Hoffnung: Eine Toilette werde etwa im alten Nationalpark-Tor geplant – ebenso ein Café. Er berichtet von zwei, drei Interessenten für ein Café, denen man bei der Immobiliensuche helfe. Doch die Finanzierung sei oft schwierig, die Banken seien beim Thema Gastronomie sehr vorsichtig. Gram ist Karin Emunds nicht, dass es keine Sofort-Lösungen gibt: „Es kommt ja so langsam alles. Man muss auch mal zufrieden sein.“
Von Normalität sind die Flutgebiete im Kreis Euskirchen noch weit entfernt
Auch wenn der Wiederaufbau oft quälend lange dauert und an den Nerven zehrt: Die Freude an jedem kleinen Schritt versuchen viele sich zu bewahren. Alexander Geschwind ist einer von ihnen. Er arbeitet an einem Vorgarten an der Urftseestraße, die Hecke wird geschnitten, alles hübsch gemacht: „Es freut mich, endlich wieder normale Projekten zu haben.“
Die Gärtnerei seiner Familie im Müsgesauel war durch die Flut schwer beschädigt worden, abgeschlossen ist der Wiederaufbau noch nicht: „Die Maler sind gerade da. Dann fehlt noch die Küche.“
Hier fehlt noch dies, dort jenes. Das ist für viele Menschen in den Flutgebieten nach wie vor Alltag. Ein Stück weiter die Urftseestraße hinunter ist die Stimmung eine ganz andere. Ingo Pfennings hält inne. Ein Haus fehlt hier. Die Brachfläche erinnert ihn an eine auch in der Katastrophe schwersten Stunden seiner bisherigen Amtszeit.
Das Wasser hatte die Fassade weggerissen, das Fachwerkhaus drohte auf die Straße zu kippen, Pfennings musste den Zwangsabriss anordnen. „Das war wohl das Emotionalste. Es bereitet dich niemand darauf vor, jemandem das Haus wegnehmen zu müssen.“ Dass man die Eigentümer überzeugen konnte und der Abriss schließlich mit deren Zustimmung geschehen ist, macht die Sache kaum besser.
Die Kommunen haben keine Handhabe bei privaten Immobilien
Wer durch die Orte fährt, mag auf den ersten Blick einen Eindruck von Normalität erhalten. Auf dem Weg zu Fuß, beim Blick durch die Fenster in noch leere Erdgeschosse offenbart sich, dass die vielfach noch weit entfernt ist. Oft werden Pfennings und das Rathaus-Team angesprochen, warum es in diesem oder jenem Haus noch so aussieht, als sei das Wasser erst vor wenigen Tagen gewichen.
Eine Handhabe hat die Stadt bei privaten Immobilen nicht, so lange nicht die öffentliche Sicherheit oder die Gesundheit gefährdet sind. Doch Pfennings und seine Kollegen suchen immer wieder das Gespräch mit den Besitzern – und werden immer wieder mit Schicksalen konfrontiert, mit Sorgen, mit Traumata, dem Ärger mit Versicherungen, dem Handwerkermangel.
Die seelischen Wunden brauchen viel Zeit zum Heilen
Die seelischen Wunden brauchen Zeit zu heilen. Viel Zeit. Die Flut hat nicht nur Mauern weggerissen, sondern auch das Gefühl des sicheren Zuhauses. Der vielfach befürchtete Exodus aus den Tälern hat jedoch nicht stattgefunden. Genaue Zahlen hat Pfennings zwar nicht: „Gefühlt sind es aber weniger als 100 Leute, die weggezogen sind.“ Ein wenig gerührt ist er, wenn er von der Heimatliebe berichtet: von Menschen, die nach der Flut gegangen und zurückgekehrt sind.
Ein paar Straßen weiter in Malsbenden werkelt Jürgen Dopperath an seinen Außenanlagen – zum zweiten Mal. 14 Tage vor der Flut hatte er sein zweijähriges Gartenprojekt abgeschlossen, zwei Jahre nach der Flut ist es fast wieder fertig. Er berichtet von Glück mit den Handwerkern, Ärger mit der Versicherung und viel Arbeit.
Wie so viele erfreut er sich an kleinen Dingen, am Grün, an Blumen: „Die Farben sind wichtig. Wenn das Grau vom Bauen weg ist.“ Wie so viele berichtet er von der Angst, als jüngst wieder Unwetter angekündigt waren. Davon, wie er den Keller ausgeräumt hat. Wie so viele sagt er am Ende seines Wiederaufbau-Wegs: „Noch mal schaff' ich das nicht.“
Der Wiederaufbau wird bis 2030 dauern - mindestens
Im Kleinen wie im Großen ist die Kommunikation für Ingo Pfennings immens wichtig. Nach draußen, um die Erinnerung wach zu halten: „Wir müssen den Menschen ins Gedächtnis rufen, dass die Flut nicht nur im Ahrtal und in Bad Münstereifel gewütet hat.“ Und nach innen, mit der Bevölkerung. „Das wird eine Riesenherausforderung“, sagt er mit Blick auf all die Maßnahmen, bei denen es gilt, die Menschen mitzunehmen.
Die Brückenneubauten sind so ein Thema: Ein 1:1-Wiederaufbau kommt nicht infrage: „Dann hätten wir die Hausaufgaben beim Hochwasserschutz nicht gemacht.“ Ein weiteres ist die Kanalisation, die in den nächsten Jahren quer durchs Tal erneuert werden muss – was wiederum der Grund ist, dass aktuell mancherorts die Bürgersteige noch nicht instand gesetzt werden. Helfen soll beim Erklären eine Wiederaufbau-Homepage, die die demnächst startet.
„Projekt 21/26“ haben die Schleidener ihren städtischen Wiederaufbau überschrieben. „Das war wohl auch ein bisschen zur internen Motivation“, sagt Pfennings schmunzelnd. Angesichts der Dimension wisse jeder, dass 2026 nicht realistisch ist. 2030 vielleicht. Doch vorsichtshalber haben die hart getroffenen Kommunen schonmal bei Ministerin Ina Scharrenbach vorgefühlt, ob die Förderrichtlinien nicht über 2030 hinaus verlängert werden können. Die Wunden heilen eben langsam. Aber sie heilen.