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StudieFlutkatastrophe in Schleiden: Experte sagt, was bei der Hilfe gut lief und was nicht

Lesezeit 5 Minuten
Olaf Scholz und Ina Scharrenbach sprechen mit Frank Waldschmidt. Im Hintergrund steht ein Zelt des Technischen Hilfswerks.

Psychologische Betreuung nach der Katastrophe: Frank Waldschmidt erläuterte beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz, damals noch Finanzminister und Vizekanzler, und NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach im August 2021 in Gemünd die Arbeit der Helfer.

Professor Dr. Harald Karutz ist voll des Lobes über die Menschen im Schleidener Tal. Er erklärt aber auch, was noch besser werden kann.

Eines ist Professor Dr. Harald Karutz ganz wichtig: „Menschen waren unvorstellbaren Belastungen ausgesetzt und haben Unvorstellbares geleistet.“ Das vorweg, wenn es darum geht, die Psychosoziale Notfallversorgung, kurz PSNV, nach der Flutkatastrophe im Juli 2021 auszuwerten.

Karutz und sein Team von der Medical School Hamburg beschäftigen sich seit Monaten mit dem Thema und richten dabei ihren Fokus auf das Schleidener Tal. Bei einer Tagung im Kreishaus gab der Diplom-Pädagoge, Notfallseelsorger und Professor für Psychologisches Krisenmanagement nun Zwischenergebnisse bekannt.

Dafür haben die Wissenschaftler mit 21 Betroffenen und Einsatzkräften lange Gespräche geführt. Das sei sicher nicht repräsentativ, betont Karutz, biete aber die Basis für eine qualitative Analyse. Dabei ist ihm noch etwas ganz wichtig: Bei der Auswertung gehe es nicht um Schuldzuweisungen, sondern darum, für die Zukunft noch besser aufgestellt zu sein.

Flut 2021: Experten werten die Hilfsangebote im Schleidener Tal aus

Den Helfern gebühre nämlich höchster Respekt, stellt der Professor klar: „Auch diejenigen, die Entscheidungen treffen mussten, waren zum Teil selbst extremen Erfahrungen ausgesetzt.“ Auch sie haben die Erfahrung gemacht, hilflos zu sein. Auch sie haben Tote gesehen, selbst Todesängste erlitten. Und einige von ihnen haben in dieser Nacht ihnen nahestehende Menschen verloren. „Menschen, die im Einsatz funktionieren sollten, wussten zum Teil selbst nicht, ob ihre eigenen Eltern oder andere Angehörigen noch lebten“, berichtet Karutz aus den Gesprächen.

Porträtbild von Professor Dr. Harald Karutz.

Professor Dr. Harald Karutz, Diplom-Pädagoge, Notfallsanitäter und Notfallseelsorger, lobte die Arbeit der Helfer nach der Flut. Er machte aber auch Verbesserungsvorschläge.

Zerstörte Straßen, zerstörte Häuser, zerstörte Kommunikationsnetze, keine Verbindung zur Rettungsleitstelle nach Euskirchen. Auch für die Helfer war nichts mehr wie gewohnt: Nicht in der Nacht zum 15. Juli, nicht in den Tagen und Wochen danach. Was tun? Konzepte oder Blaupausen für eine solche Situation gab es nicht.

Menschen waren unvorstellbaren Belastungen ausgesetzt und haben Unvorstellbares geleistet.
Harald Karutz, Professor für Psychologisches Krisenmanagement

Und der Mann im feinen Anzug, der mit sauberen Schuhen und dem Aktenkoffer unter dem Arm aus der Landeshauptstadt kommend die Einsatzzentrale betritt, um kraft seiner Expertise nun allen zu sagen, was zu tun ist, kam auch nicht. Darauf habe er gehofft, so einer von Karutz' Gesprächspartnern.

„Das war ich“, hob Schleidens Bürgermeister Ingo Pfennings im Gespräch mit dieser Zeitung für seinen Fall die Anonymität der Interviews auf. Auch er und seine Kollegen fanden sich in einer Lage wieder, die keiner bislang erlebt hatte.

Hoffnung des Schleidener Bürgermeisters erfüllte sich nicht

Was also lief gut? Die Eifeler nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand, auch bei der psychologischen Hilfe. Und das machten sie sehr gut, lobt Karutz. Fachkräfte kamen aus dem Ruhestand zurück. Einzelne kümmerten sich um Betroffene.

Die sozialen Netzwerke, wie es sie wohl nur im ländlichen Bereich gibt, funktionierten. „Weil jemand jemanden kannte, der jemand anderem helfen konnte“, fasst der Professor zusammen. Und zum Glück ging das auch gut. „Denn das kann keine Strukturen ersetzten“, mahnt Karutz: „Man kann dabei auch an die Falschen geraten.“

Im Schleidener Tal seien die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Im Ahrtal hingegen hätten einige vorgebliche Helfer ihr Unwesen getrieben. „Wir haben es mit Menschen in einer hoch vulnerablen Lage zu tun. Da sollte man schon schauen, wer denn da hilft“, stellt der Professor klar.

Professor schwärmt nahezu vom Hilfszentrum in Gemünd

Dann aber wird per Beamer das Bild eines Gebäudes auf die Wand projiziert – und Karutz gerät nahezu ins Schwärmen. „Der Aufbau eines zentral gelegenen, niedrigschwellig erreichbaren, multiprofessionell und interdisziplinär ausgerichteten Hilfezentrums“, ist der Powerpoint-Folie fettgedruckt zu entnehmen.

In diesem Haus in Gemünd erhielten Menschen Unterstützung, vom Wiederaufbauantrag bis zur psychischen Hilfe. „Alle möglichen Hilfsangebote unter einem Dach – das ist aus meiner Sicht etwas Besonderes und Nachahmenswertes“, sagt der Professor. Bis Ende 2024 war das Zentrum am Start, dann lief die Förderung aus.

Es gab nämlich auch Menschen, die gar nichts mehr zum Aufräumen hatten, weil einfach alles zerstört war.
Harald Karutz, Professor für Psychologisches Krisenmanagement

Schade aber, dass es derartiger Hilfszentren zu wenige gab. Hilfsmaßnahmen, damit geht Professor Karutz über zu den Verbesserungsvorschlägen, sollten für alle Menschen in einem Katastrophengebiet einheitlich angeboten werden. Denn „Insellösungen“ wie das Hilfszentrum könnten zu Missgunst bei Menschen führen, denen sie nicht oder kaum zugänglich sind.

Hilfsangebote: Überörtliche Koordination ist noch ausbaufähig

Welche Lehren sind noch zu ziehen? Es seien nicht immer ausreichend PSNV-Fachkräfte vor Ort gewesen. „Es gab da einen hohen Bedarf an Menschen, die helfen. Die waren aber nicht immer zu finden“, sagt der Professor. Gleichzeitig hätten im Ahrtal Kräfte bereitgestanden, die nicht abgerufen wurden. Die überörtliche Alarmierung und Verfügbarkeit von Psychosozialer Akuthilfe und Fachkräften für die mittel- und langfristige Versorgung sei sicher noch ausbaufähig.

Und stimmt es, dass Menschen anfangs mit dem Aufräumen so sehr beschäftigt sind, dass sie erstmal keine psychische Hilfe brauchen oder sich gar gestört fühlen, wenn sie ihnen angeboten wird? „Ja, das ist bei vielen Menschen so gewesen, aber nicht bei allen“, entnimmt Karutz den Gesprächen.

Konzepte können auf dem aufbauen, was im Schleidener Tal geleistet wurde

Daher sollte man nicht alleine anhand dieser Annahme das Angebot ausrichten. „Es gab nämlich auch Menschen, die gar nichts mehr zum Aufräumen hatten, weil einfach alles zerstört war.“

Und was heißt „akut“ im Zusammenhang mit psychischen Belastungen? Wenn mehrere Wochen nach der Katastrophe vergangen sind, könne man natürlich sagen, dass es nicht mehr akut sei, so Karutz: „Man kann aber auch argumentieren: Wenn die Menschen nach Wochen des Aufräumens erstmals zur Ruhe kommen und dann zusammenbrechen, genau dann ist es akut. Was denn sonst?!“

Schließlich gehe es um das Wie. „Es gab eine starke Fokussierung auf die Themen Trauma und Therapieangebote“, stellt Karutz fest. Die Interviews haben aber ergeben, dass auch niedrigschwellige Angebote gefragt seien: Trauerbegleitung etwa, oder Gemeinschaftsaktivitäten.

Es gelte, ein breiteres, ausdifferenziertes Hilfskonzept aufzustellen, schlägt Professor Karutz vor, um auf dem aufbauen zu können, was ab dem Sommer 2021 im Schleidener Tal Großes geleistet worden sei. „Es war ein Musterbeispiel für ,professionelle Improvisation'“, so der Wissenschaftler.