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Café fehlt nochAlte Tuchfabrik in Euskirchen war ein Lost Place und ist nun Wohlfühlort

Lesezeit 7 Minuten
Blick aus der Vogelperspektive auf die Gebäude der Alten Tuchfabrik.

Die letzte Tuchfabrik in Euskirchen schloss 1982. Die ersten Gebäude des Komplexes waren in den 1850er-Jahren errichtet worden.

In der Alten Tuchfabrik in Euskirchen haben sich zahlreiche Unternehmen angesiedelt und genießen das Ambiente. Vermisst wird nur noch ein Café.

Einst Aushängeschild der Euskirchener Tuchindustrie, dann letztes Überbleibsel eben genau dieser. 1982 gingen auch in der Alten Tuchfabrik Ruhr-Lückerath zwischen Euskirchen und Euenheim die Lichter aus. Das Areal verkam zum Lost Place, in dem später immerhin ein paar Euskirchener Bands probten – gestört haben sie dort niemanden. Spätestens seit etwa fünf Jahren ist die Alte Tuchfabrik aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Das Areal hat sich zu einem eigenen Quartier, zu einem Schmelztiegel der unterschiedlichsten Unternehmen, Start-ups und Generationen entwickelt. Wach geküsst hat das Areal Martin Schommer.

Er ist der Eigentümer der Alten Tuchfabrik. In den vergangenen Jahren hat er mit seinem Team viel Zeit sowie Liebe und noch mehr Geld in das Areal investiert. Und es dürften in Zukunft sicherlich noch mehr Firmen einziehen, denn einige Hallen stehen leer, könnten noch saniert werden. In einigen wird bereits daran gearbeitet, zudem wird der Parkplatz aufgehübscht und mit einem Bewirtschaftungskonzept versehen. Und was verbindet Schommer mit der Alten Tuchfabrik? „Dieser Ort kann Strukturwandel. Dieser Ort ist sehr kreativ und innovativ aufgestellt“, sagt er.

Zahlreiche Unternehmen arbeiten nun in den alten Hallen in Euskirchen

Wie innovativ die Alte Tuchfabrik aufgestellt ist, verdeutlicht ein Blick auf die Unternehmen, die sich in den vergangenen Jahren angesiedelt haben. Dazu gehört nicht nur die Kindertagesstätte Löwenherz und das Start-up Spinebase, das sich aufs betriebliche Gesundheitsmanagement spezialisiert hat. Auch die Ideenfabrik der Wirtschaftsförderung des Kreises Euskirchen und der Kreissportbund haben Räume gemietet. Im Erdgeschoss wird die ganze Vielfalt des Areals sichtbar.

Nadia Stanke (l.) steht mit einer Mitarbeiterin am einem Tisch, auf dem Muster verschiedener Farben liegen.

Das Innenarchitektur-Team um Nadia Stanke (l.) betreut von der Alten Tuchfabrik aus Kunden in ganz Deutschland.

Martin Schommer steht in einer der Hallen der Alten Tuchfabrik.

Eigentümer der Alten Tuchfabrik ist Martin Schommer.

Da ist beispielsweise das interdisziplinäre Innenarchitektur-Team von „Stanke Interiour Design“. Das Team besteht aus Experten aus den Bereichen Innenarchitektur, Architektur, Mode- und Produktdesign und hat seit 2019 sein Büro in der Alten Tuchfabrik. Wie viele andere Mieter auch, wurde Stanke stark von der Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 getroffen. 1,20 Meter stand das Wasser im Büro, zerstörte nicht nur Möbel und Computer. Doch wer, wenn nicht ein Innenarchitektur-Team baut das Büro wieder auf – modern und zukunftsorientiert.

„Am Tag der Flut habe ich Herrn Schommer weinend in den Armen gelegen. Schon da stand fest, dass wir zurückkommen, weil das für uns ein magischer Ort ist“, sagt Chefin Nadia Stanke. Ursprünglich hatte das Büro in Rheinbach seine Heimat. Dort wurde es dem Team aber zu klein. Und auch in der Tuchfabrik vergrößerte man sich – im Zuge der Flutsanierung. Die beim Hochwasser eingestürzte Trockenbauwand wurde weggerissen und das Büro vergrößert. Das Team, das nur aus Frauen besteht, betreut Kunden quer durch Deutschland.

Kreis Euskirchen hat in der Tuchfabrik eine Ideenfabrik eingerichtet

Zwei Büros weiter hat Daniela Springer ihr Quartier bezogen. Fündig geworden sei sie über eine Immobilienplattform im Internet, sagt die Expertin für Gesundheits- und Reha-Sport. Auch sie hat bei der Flut ziemlich viel verloren, auch sie hat nicht ans Aufgeben gedacht. Mittlerweile geben neun Trainer mit der Chefin Kurse in den unterschiedlichsten Altersklassen – von Kindergartenkindern bis zu Senioren. „Ich fühle mich hier unheimlich wohl. Und meine Kunden tun das auch“, sagt die Kuchenheimerin.

Mona Neubauer, NRW-Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klima und Energie, steht neben Philipp
Klietz und sieht ihn an. Der Inhaber der Filmproduktionsfirma AV22+, gestikuliert mit seinen Händen.

Eine Filmagentur betreibt Philipp Klietz, der nach der Flut Besuch von Mona Neubauer, NRW-Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klima und Energie, bekam.

Blick auf feiernde Jecken beim Einzug des Bauern in der Alten Tuchfabrik.

Alaaf im alten Gemäuer: Seitdem die Flut das City-Forum zerstört hat, nutzt auch der Festausschuss Euskirchener Karneval die Tuchfabrik.

Daniela Springer hält vor sich einen großen Gymnastikball.

Rehasport bieten Daniela Springer und ihr Team an.

Apropos wohlfühlen: Das Wort fällt in den Gesprächen rund um die Alte Tuchfabrik immer wieder. Auch Iris Poth, Wirtschaftsförderin des Kreises Euskirchen, nutzt es, wenn es um die Ideenfabrik auf der dritten Etage der Alten Tuchfabrik geht. Wohlfühlen tun sich auch die Gründer in der Ideenfabrik, die im vergangenen Jahr ihre Türen für Gründer öffnet und sich das Thema Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben hat. In Büros, einer Werkstatt oder einem Konferenzraum wird an der Eifel 2030 gearbeitet – auch dank der Innovation, die die alten Gemäuer heute noch vermitteln.

Euskirchener Karnevalisten feiern hier Proklamation und Damensitzung

Auch die Filmagentur AV22 ist in der Alten Tuchfabrik beheimatet. Das Team um die Brüder Philipp und Julian Klietz war eines der ersten Unternehmen, das sich nach einigen Jahren der Krise rund um die Liegenschaft am Veybach angesiedelt hatte. „Wir produzieren da, wo andere Urlaub machen“, sagt Philipp Klietz.

Wir produzieren da, wo andere Urlaub machen.
Phillip Klietz

Der Festausschuss Euskirchener Karneval fühlt sich ebenfalls wohl. Aus der Zweckbeziehung, nachdem die Flut das City-Forum schwer in Mitleidenschaft gezogen hatte, ist längst eine kleine, jecke Liebesgeschichte geworden. Egal, ob bei Proklamation oder Damensitzung – die Jecken zeigen, dass auch eine ausgediente Halle in einer Tuchfabrik in einen Hexenkessel verwandelt werden kann. Und das wird er in den kommenden fünften Jahreszeiten der Fall sein müssen. Bis das neue City-Forum fertig ist, werden noch Jahre vergehen.

Die Stadt Euskirchen nutzt die Gebäude, um dort Ratssitzungen durchzuführen. Auch Bürgerworkshops zum Thema des Hochwasserschutzes fanden in der Halle „Wohnraum“ bereits statt. Feiern kann man übrigens auch in der sogenannten Feuerhalle. Sogar heiraten ist möglich, weil die Location seit dem 1. Mai 2023 ein externer Trauort der Stadt Euskirchen ist. Und falls es mit dem Rad in die Flitterwochen gehen soll: In der Alten Tuchfabrik werden von einem Dienstleister Eifel-E-Bikes repariert.

Die Feuerhalle dient als Location für Feiern und andere Veranstaltungen

Wer sich nach der Hochzeit auf das Wesentliche – also auf sich – konzentrieren will, der ist bei Stella Wolters genau richtig. Sie unterrichtet Yoga gegenüber der Feuerhalle. „An der Tuchfabrik liebe ich den besonderen Charme der alten Gebäude. Sobald ich das Gelände betrete, betrete ich eine andere Welt, in der die Zeit langsamer vergeht. Da ich überwiegend abends im Yogaloft bin, genieße ich die Ruhe, die nur von Vogelgesang durchbrochen wird. Ein Safespace für meine YogaschülerInnen und mich“, berichtet die Wahleifelerin.

Aufgrund der alten Gebäudestruktur sind die Energiekosten natürlich recht hoch.
Luca Morina

Aus dem ehemaligen Freibad in Euskirchen in die ehemalige Tuchfabrik: Der Verein „X-Fit“ hat genau diesen Weg hinter sich. Er bietet Functional Training an. „Funktionelles Training trainiert Bewegungen, bei denen mehrere Muskeln zusammenspielen“, erklärt Trainer Luca Morina. Der Verein fühle sich in an seinem neuen Standort pudelwohl. Das historische Flair habe für den Verein aber auch Tücken, wie der Euskirchener zugibt. „Aufgrund der alten Gebäudestruktur sind die Energiekosten natürlich recht hoch“, sagt Morina.

Der Kreissportbund (KSB) ist in die Tuchfabrik gezogen, nachdem die Geschäftsstelle das Thomas-Eßer-Berufskolleg verlassen hat. Dieser Schritt wurde nach der Flut nötig, weil in der Berufsschule dringend Unterrichtsräume benötigt wurden. Der KSB hat sich eingelebt in den Räumen mit den hohen Decken. Allerdings berichten die Mitarbeiter auch von kleineren Problemen, die die alten Mauern so mit sich bringen. „Im Sommer ist es hier oben mitunter ganz schön warm“, sagt Martin Sommer. Aber das sei nichts, was sich mit einem offenen Fenster nicht lösen ließe. Das Ambiente sei aber viel mehr wert als ein nicht perfekt isoliertes Gebäude.

Es fehlt also an kaum etwas in dem kleinen Quartier in historischem Ambiente? Doch! Genauso wie das Wort „Wohlfühlen“ im Gespräch immer wieder fällt, wird auch der Wunsch nach einem Café oder einer anderen Möglichkeit, etwas zu essen, geäußert. Aktuell muss nämlich beispielsweise eine Pizza bestellt oder wie beim Stanke-Team in der eigenen Büro-Küche selbst gekocht werden. Eine Möglichkeit, sich mit den anderen Mietern auszutauschen, zu quatschen und dabei eine Kleinigkeit zu essen, wäre toll, sagt Nadia Stanke: „Das wäre das i-Pünktchen.“


Die Geschichte der Tuchfabrik

1961 beschäftigte die Tuchfabrik Ruhr-Lückerath zwischen Euskirchen und Euenheim 458 Menschen. 1982 passierte, was lange niemand glauben mochte: Auch die Firma Ruhr-Lückerath musste als letzte Euskirchener Tuchfabrik schließen und die 180 noch verbliebenen Beschäftigen entlassen.

Der immer rasanter werdende technische Fortschritt erforderte immer größeren Kapitaleinsatz. Erhebliche Preissteigerungen der Rohstoffe, eine Mode, die eher Baumwoll- als Wollprodukte präferierte und Billigimporte aus Niedriglohnländern bedeuteten das Aus.

Dem imposanten Gebäudekomplex ist die einstige Größe des Betriebes unschwer anzusehen. Die ersten Gebäude wurden bereits in den 1850er Jahren am Veybach errichtet. Das mehrstöckige Gebäude in der Mitte des Ensembles wurde 1887 erbaut und ist in seiner Form als Hochbau mit Rundbogenfenstern (nur noch im Erdgeschoss erhalten), der langen Fensterachse und den Mauerankern ein typischer Fabrikbau jener Zeit.

Auffällig sind auch viele Jahrzehnte nach der Schließung das große Kessel- und Turbinenhaus mit mächtigem Schornstein und die weitläufigen, ebenerdigen Shedhallen, die als Wolferei, Krempelei, Spinnerei und Fertigappretur genutzt wurden. Die Weberei befand sich im Hochbau parallel zum Veybach.