Tim-Luca Saur war nach einer Tradition der Handwerksgesellen fast fünf Jahre unterwegs – nur mit dem Nötigsten im Gepäck.
Traf „schnellste Nonne Europas“Freilinger Handwerksgeselle war fünf Jahre auf der Walz
Mit dem traditionellen Überklettern des Ortsschildes begann es. Und so endete es auch: Tim-Luca Saur aus Freilingen war fast fünf Jahre auf der Walz. Der Tischlergeselle lernte dabei fast ganz Deutschland kennen, baute im Allgäu Möbel für Ferienwohnungen, übernachtete in Ostfriesland in einem Glockenturm und trampte mit Europas schnellster Nonne.
Nein, Angst habe er nie gehabt. Der Tischlergeselle ist ungerührt. Der sanfte, ausgeglichen wirkende 26-Jährige mit den langen Haaren – Spitzname im Lehrbetrieb in Lommersdorf daher „Sissi“ – scheint eher zu lächeln. Vier Jahre und elf Monate war er auf der „Tippelei“, wie man die seit dem Mittelalter bekannte Walz der Handwerksgesellen nennt. Angst und Bange unterwegs, fern der Heimat, auf sich allein gestellt und ohne Smartphone? Ach was.
Blankenheim-Freilingen: Tim-Luca Saur folgte uralter Tradition
Dabei hätte er allen Grund dafür gehabt. Denn am 21. Oktober 2019, einen Tag nach seinem 22. Geburtstag, begab er sich auf eine ungewisse Reise. Wie es der Brauch will, hatte ihm die Familie übers Ortsschild geholfen. Von seinem Altgesellen, den er zuvor bei einem Gesellentreffen kennengelernt hatte, wurde er in Empfang genommen.
„Geld fürs Fortkommen und fürs Übernachten dürfen wir nicht ausgeben“, so Saur. Gereist werde meist zu Fuß und per Anhalter. Wildfremde Menschen würde er ansprechen müssen für ein Dach über dem Kopf zur Nacht, für Arbeit und für Lohn.
In den besuchten Städten brauchte es einen Nachweis per Siegel im Wanderbuch, wo auch Arbeitszeugnisse zu hinterlegen waren. Und außerdem: Nie länger als drei Monate an einem Ort bleiben, sondern weiterziehen!
Tippelei und Pandemie: Saur nähte während Corona Masken selbst
Tim-Luca Saur schreckte das alles nicht. Er erhielt die nötigen Tipps vom Altgesellen, der den Neuling der Tradition entsprechend auf der Walz die ersten drei Monate einzuweisen hat.
Die Nagelei weist danach wie bei einem Initiationsritus aus, dass auch Saur kein Novize mehr ist: Mit einem handgeschmiedeten Nagel wird in das linke Ohrläppchen ein kleines Loch genagelt. „Und dann bekommt man seinen Ohrring“, sagt Saur. Er hat sich so sichtbar dem Ehrenkodex seines Handwerks, der Tischlerei, verschrieben und kann alles, um seine Wanderschaft alleine fortzusetzen.
Das war im Januar 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie. Saur war da schon mehrere hundert Kilometer von seiner Heimat entfernt. Da war das Fortkommen schwer: „Die Straßen waren ja leer, mal fünf Autos an einem Tag.“
Masken nähte er auf einer Großbaustelle in Thüringen für sich und 25 weitere Wandergesellen an einer Nähmaschine selbst. Trotz regelmäßiger Besuche von Testzentren und Impfung habe es ihn unterwegs doch vier Mal erwischt, „das erste Mal mit schlimmen Symptomen“. In ernsten Krankheitsfällen kann er in Familien von Wandergesellen Unterkunft finden, man unterstützt sich da gegenseitig mit Kontakten.
Eifeler übernachtete im Kirchturm, unter der Brücke und im Sterne-Hotel
Unterkunft und Übernachtung, die erfragte Saur auch in Ostfriesland: Der Küster einer Kirchengemeinde wies ihm den freistehenden Kirchturm zu. „Da lag ich direkt unter vier Glocken. Zweimal haben die in dieser Nacht geläutet, da habe ich mir die Ohren zugehalten“, sagt er und schmunzelt.
In einem Winter musste es bei Minus zwei Grad für eine Nacht ein Gartenpavillon sein, geschlafen habe er aber auch unter Brücken, auf einer Waldwiese, in Parkhäusern und einmal in einem Hotel: „Das hatte sogar vier Sterne. Ich habe einfach gefragt, und es hat geklappt.“
Viele, die er unterwegs traf, meinten, er müsse doch ein Bett haben zum Übernachten. Aber das brauche er nicht, ihm reichten zwei Quadratmeter trockener Boden. Drei Monate war ein kleines Kellerzimmer sein Zuhause, dafür hatte er am Ort Arbeit und Lohn.
Wandergeselle wurde oft mit kleinen Spenden unterstützt
Wer auf die Walz geht, der lernt eben, wie man das, was notwendig ist, organisiert. Dabei hilft die Kluft: Die Menschen, die er unterwegs kennenlernt oder zufällig trifft, finden die traditionelle Kleidung interessant: „Man kommt schnell ins Gespräch.“ Etwa in Fußgängerzonen oder auf Wochenmärkten in den Städten.
Da wurde den Wandergesellen, die oft in kleinen Gruppen unterwegs sind, schon mal frisches Gemüse, Obst oder fünf Euro geschenkt. Außerdem, so der alte Glaube der Reisenden, schützt unterwegs Mathilda, wie die Wandergesellen die Straße nennen.
Und wo hat es ihm besonders gut gefallen? „Im Oberallgäu, die Menschen sind offen und unkompliziert.“ Eine Tischlerei in Fischen beschäftigte ihn für drei Monate, der Eifeler fertigte Möbel für Hotels und Ferienwohnungen an.
Eine Nonne nahm Saur in Sportwagen mit
So gut wie alle Ecken Deutschlands, aber auch Nachbarländer wie Dänemark, Tschechien, Polen, Frankreich, die Niederlande, die Schweiz oder Luxemburg, hat Saur bereist. Bei Paderborn habe ihn eine Nonne in einem Sportwagen mitgenommen, chauffiert von einem jungen Unterstützer. Die Ordensschwester war wohl in Sachen ihrer gemeinnützigen Stiftung unterwegs, wie Saur erzählt. „Sie sei eben die schnellste Nonne Europas“, habe sie nur angemerkt.
Andere Begegnungen haben den jungen Handwerksgesellen nachhaltiger beeindruckt. Auf einem Mittelalter-Markt am Bodensee habe er einen Mann mit der Ausstrahlung eins Wandermönches kennengelernt: „Der war aus so etwas wie einer kriminellen Bande ausgestiegen und machte einen Neuanfang.“ Saur hat noch heute Kontakt zu ihm.
Einmal übers Freilinger Ortsschild und zurück
Lebenserfahrungen sammeln – das gehörte schon immer zur Walz dazu, die so auch eine Art Coming-of-Age-Geschichte ist. Ebenso relevant ist, was die Gesellen auf ihrer Wanderschaft an Wissen aus dem Kontakt mit anderen Handwerksberufen für ihr Handwerk mit nach Hause bringen.
Saur arbeitete natürlich in seinem Beruf als Schreiner, er mauerte aber auch, half im Landschaftsbau, unterstützte Dachdecker, probierte die Holzbildhauerei, führte die Kassenbücher bei einem gemeinnützigen Bauprojekt, baute Scheunentore, einmal sogar ein neues Burgtor.
Am 21. September 2024, nach vier Jahren und elf Monaten, durchbrach Tim-Luca Saur erneut symbolisch den vorgeschriebenen 50-Kilometer-Bannkreis um sein Heimatdorf. Kontakt nach Freilingen hatte er seit dem Oktober 2019 nur alle paar Wochen über ein von Fremden ausgeliehenes Smartphone. Mehr war nicht erlaubt. Er selbst hatte nur eine Fotokamera dabei.
Jetzt kletterte er ein zweites Mal über das Ortsschild. Von außen nach innen. Da war er selbst zum Altgesellen geworden, der in den Jahren zuvor fünf Mal Neulingen, wie er selbst einmal einer war, in der dreimonatigen Einarbeitungszeit das Leben auf der Walz beigebracht hatte.
Wie es nach der Walz jetzt für Saur weitergehen soll
Was er nun plant? „Ich möchte minimalistisch leben, wie ich es auf der Walz kennengelernt habe. Ich brauche nicht viel. Vielleicht baue ich mir ein Tiny House.“ In Freilingen wolle er als Gemeinschaftsprojekt einen Platz für verschiedene Handwerksberufe schaffen, der auch ein Lernort, ein Ort für den Austausch sein könne.
Und dann will er den Teil Deutschlands kennenlernen, um den er vier Jahre und elf Monate lang einen Bogen machen musste: 50 Kilometer ab Freilingen, im Kreis. „Die Welt ist nicht so schlimm, wie man immer meint“, davon ist Tim-Luca Saur nach seiner Walz überzeugt. Er hat es so erlebt.
Ob ihn das Fernweh noch einmal packt? „Die Freiheit zu sagen: Ich reise, um zu arbeiten und arbeite, um zu reisen.“ Das habe er in den knapp fünf Jahren gelernt. Doch eine solche Wanderschaft sei nur etwas für Menschen, die Sicherheit aufgeben können, „dafür aber sehr viele Chancen und Möglichkeiten haben“.
Geselle hatte Erlenstab als Wanderstock bearbeitet
In der Werkstatt auf dem Hof seines Opas in Freilingen, auf dem die Familie lebt, hat Saur wenige Tage vor Beginn seiner Reise einen Erlenstab bearbeitet, ein wie gedrechselt gewundener kräftiger Ast, den er in einem Wäldchen bei Bonn gefunden hatte: „Der ist so gedreht, weil ein Geißblatt, eine Schlingpflanze, ihn beim Wachstum gewürgt hat“, so der Tischlergeselle. Da sei das Holz um die Ranken gewachsen.
Er hat das Holz geschält, den Fuß mit einem Massivholzstumpen verbunden. An diesen Stock hing er im Oktober 2019 den Tragegurt seines runden Wandersacks, kletterte aufs Ortsschild und schwang sich darüber. Auf der anderen Seite wartete auf ihn eine ganze Welt.
Die Walz und ihre Bräuche entstammen dem Mittelalter
Die Ursprünge der Walz und der mit ihr verbundenen Bräuche liegen im Mittelalter. Rituale und Traditionen sind geheim und teilweise von Handwerk zu Handwerk verschieden. Auf die Walz gegangen werden kann zum Beispiel innerhalb einer „Schacht“, dem Zusammenschluss von Handwerkern, die auf Wanderschaft sind oder waren.
Vorteile sind Listen von möglichen Arbeitgebern oder Übernachtungsmöglichkeiten, dafür sind aber auch Pflichtveranstaltungen zu besuchen. Oder man ist wie Tim-Luca Saur „Freigänger“.
Wer auf die Walz gehen will, muss gemäß der Jahrhunderte alten Tradition sechs Voraussetzungen erfüllen: Eine abgeschlossene Berufsausbildung in seinem Handwerk. Er oder sie muss unter 30 Jahre alt, schuldenfrei und nicht vorbestraft sein, zudem kinderlos und unverheiratet. Wer diese Bedingungen erfüllt, gilt gemäß dem Ehrenkodex als „ungebunden und frei“ und darf losziehen.
Ein Geselle oder eine Gesellin auf der Walz sollte sich unterwegs immer so verhalten, dass er oder sie der Fortführung der Tradition dient. Derzeit sind nach verschiedenen Schätzungen zwischen 700 und 800 Gesellen aus mehr als 40 Handwerksberufen auf dieser Reise. Meist sind es Männer, der Frauenanteil beträgt gemäß der Schätzungen etwa um die 25 Prozent.