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TraditionRipsdorferin Kirsten Berg war als Tischlerin vier Jahre auf der Walz

Lesezeit 7 Minuten

Kirsten Berg (Mitte) feierte Anfang Juli mit zahlreichen Wandergesellen ihre Rückkehr nach vier Jahren auf der Walz.

Blankenheim-Ripsdorf – Sie sind es gewohnt, sich in Pose zu stellen, und sie tun es mit einem Stolz, den man bei jungen Leuten eher selten antrifft. Acht Wandergesellen haben sich vor der Scheune der Familie Berg in Ripsdorf zum Gruppenfoto aufgebaut – wie es sich gehört in ihrer traditionsreichen Kluft. Mitten drin steht Kirsten Berg, die Anfang Juli nach vier Jahren und drei Monaten auf der Walz heimgekehrt ist in ihr Elternhaus. Im Schlepptau rund zwei Dutzend Kameraden, die sie auf ihrer langen Reise kreuz und quer durch Deutschland kennengelernt hat.

Die „Heimreise“, wie das in der eigentümlichen Sprache der Wandergesellen heißt, ist natürlich mit einer mehrtägigen Feier verbunden. Was Kirstens Eltern Ursula und Ingo Berg wiederum vor die Herausforderung stellte, viele hungrige Mäuler zu stopfen und für jeden einen Schlafplatz bereitzustellen.

Die Zeit auf der Straße, in Wind und Wetter, oft mit leerem Magen, wird Kirsten wohl Zeit ihres Lebens nicht mehr vergessen. „Ich habe unterwegs so viele tolle Leute getroffen“, berichtet die 32-Jährige mit strahlenden Augen. Die Ripsdorferin hatte im benachbarten Leudersdorf Tischlerin gelernt und anschließend vier Jahre in Aachen erst in einer Werkstatt, dann im Büro gearbeitet.

„Ich war vielleicht zwölf oder 13 Jahre alt, als bei meinen Eltern zwei Wandergesellen vorbeikamen, angelockt vom Geruch des frischen Brots, das meine Mutter damals gebacken hatte“, erzählte Kirsten Berg im Interview. Der Anblick dieser seltsamen Gestalten habe in ihr den Wunsch geweckt, irgendwann einmal selbst auf die Walz zu gehen.

Die Jahrhunderte alte Tradition wurde lange Zeit im Wesentlichen von Männern erhalten – schließlich waren viele Handwerksberufe bis in die Neuzeit hinein für Frauen tabu. Von den rund 500 Gesellen, die sich zurzeit in Deutschland auf Wanderschaft befinden, liegt der weibliche Anteil mittlerweile bei immerhin zehn Prozent.

„Angefangen hatte die Geschichte vor rund 800 Jahren mit den Schmieden und vor allem mit den Steinmetzen, die von einem Kirchenbau zum anderen gezogen sind“, erläutert Luca Goldbeck aus Karlsruhe, seines Zeichens „Fremder Schlosser“, die Historie der reisenden Handwerker. Lange Zeit konnte man nur dann Meister werden und sich irgendwo niederlassen, wenn man eine von den Zünften bestimmte Zahl von Wanderjahren vorweisen konnte.

Und die jungen Leute, die mit Kirsten bestens gelaunt um den Tisch sitzen, reisen tatsächlich noch so wie die Altvorderen. Die waren auf ihre Füße und Pferdekutschen angewiesen. Die heutige Generation fährt vorwiegend per Anhalter. Bahn und Bus sind verpönt. Nur bei Auslandsaufenthalten – Kirsten hat zum Beispiel in den USA gearbeitet – sind Flugreisen erlaubt.

Unterwegs haben die Wandergesellen so gut wie nie Probleme, mit den Einheimischen Kontakt aufzunehmen. In ihrer Kluft, die von Handwerk zu Handwerk unterschiedlich ist, fallen die Wandergesellen auf. Timo zum Beispiel „Fremder Schmied“ aus Friedrichshafen, trägt einen schwarzen Dreispitz auf dem Kopf, sein Kinn ziert ein Bart mit zwei Spitzen.

„Wir werden fast überall freundlich aufgenommen. Wenn man offen auf die Menschen zugeht, dann bekommt man schnell etwas zu essen und einen Schlafplatz“, berichtet er. Zu Kirsten Bergs Freundeskreis zählen mit Ingo, Jonas und Robert auch drei gelernte Brauer, die auf der Walz versuchen, möglichst in ihrem angestammten Handwerk arbeiten zu können. Hin und wieder schnuppern sie wie alle anderen Wandergesellen auch mal in andere Gewerke hinein. Immerhin durfte Ingo in einer kleinen Brauerei in Ostfriesland sein eigenes Bier brauen.

Körpersprache und Haltung der reisenden Handwerker drücken jedenfalls aus, dass sie sich in ihrer alten Tradition ausgesprochen wohlfühlen. Für viele Gleichaltrige wäre es unvorstellbar, ohne finanzielle Reserven, ohne Auto und Kreditkarte und vor allem ohne Smartphone und Internet in die Welt hinauszuziehen und sich in der Fremde ausschließlich mit dem Geschick der eigenen Hände zu ernähren.

Als Kirsten Berg vor vier Jahren in ihre Kluft stieg, den Stenz (Wanderstab) ergriff und den Charlottenburger (Bündel mit Habseligkeiten) schnürte, wurde sie zunächst von einem so genannten Exportgesellen begleitet, der schon länger auf der Walz war. So wurde die junge Frau mit den Gepflogenheiten der Wandergesellen vertraut gemacht, die ihre ganz eigene Sprache untereinander pflegen. „On the road“ wird nicht etwa gesungen, sondern „geschallert“.

Obwohl Kirsten in den ersten Tagen nach der Heimkehr schon stundenlang über ihre großes Abenteuer erzählt hat, werden ihre Eltern längst nicht alles erfahren. „Ein paar Geschichten werde ich für mich behalten“, sagt sie augenzwinkernd.

Wandergesellen erregen in ihrer Kluft überall Aufsehen

„Drei Jahre und ein Tag“ heißt ein zu Tränen rührendes Lied von Reinhard Mey, der die Wanderjahre seines ältesten Sohnes Frederik seinerzeit in Poesie verwandelt hat. Genau so lange dauert normalerweise die Wanderschaft, auf die sich Gesellen nach der Lehrzeit begeben. Michael beispielsweise, einer von Kirsten Bergs Kameraden, bezeichnet sich als „Fremder Zimmerer“. Wenn er seine Wanderjahre beendet hat, wird aus ihm ein „einheimischer Zimmerer“.

Seine Kluft besteht, wie auch von vielen Kollegen getragen, aus einer schwarzen Cordhose, einer schwarzen Weste, einem weißen kragenlosen Hemd und einem schwarzen Hut. Gesellen aus der Metallbranche tragen dagegen blaue Westen, andere beigefarbene wie etwa Steinmetze.Um als „Fremdgeschriebener“ die Welt bereisen zu können, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Auf die Wanderschaft darf heute nur gehen, wer die Gesellenprüfung bestanden hat, ledig, kinderlos, schuldenfrei und unter 30 Jahre alt ist.

Wer mit leichtem Gepäck unterwegs ist, muss seine Kleidung in kurzen Abständen waschen. Die Wandergesellen dürfen in der Regel in ihren Quartieren auch die Waschmaschine im Haus benutzen. Die meisten versuchen, ihr Äußeres so gut, wie es geht, zu pflegen, allein um bei der Arbeitssuche einen guten Eindruck zu machen. Dennoch boten die reisenden Handwerker, die in Ripsdorf zum Abschied von Kirsten Berg zusammenkamen, schon ein sehr verwegenes Bild, das mit bürgerlichen Normen schwer zu vereinbaren ist.

Die Freiheit, dorthin zu reisen, wo man Lust hat, ist natürlich auch mit einigen Beschwernissen verbunden. Nicht immer finden die „Fremdgeschriebenen“ rechtzeitig ein Quartier, weshalb auch schon mal der Schlosspark in Plön als Nachtlager herhalten muss. Oder eine Kapelle auf einem Autobahnrastplatz, wo Ingo, der schwergewichtige Brauergeselle, die Kameraden mit Walgesängen ähnelndem Schnarchen um die Nachtruhe brachte. Wer einmal auf der Walz ist, hält in der Regel auch die vorgeschriebene Zeit durch.

Abbrecher gibt es kaum – es sei denn, eigene Krankheiten oder familiäre Todesfälle zwingen zur vorzeitigen Aufgabe. Die Verbindungen, die die Gesellen auf der Walz knüpfen, sind durch gemeinsame Arbeit und feuchtfröhliche Abende so intensiv, dass sie oft ein ganzes Leben lang halten.

Reisende Handwerker arbeiten nach Tariflohn

Work and travel“ (arbeiten und reisen) ist ein Konzept, das seit einigen Jahren bei Schulabgängern, speziell bei Abiturienten, hoch im Kurs steht. Viele junge Leute nehmen sich die Freiheit, für einige Monate oder sogar für ein ganzes Jahr die Welt zu bereisen, um sich berufsmäßig zu orientieren. Im besten Fall finden sie unterwegs Arbeit, um so den Reiseetat aufzubessern und nicht ausschließlich auf Überweisungen der Eltern angewiesen zu sein.

Die großartige Idee, vor dem Eintritt ins Berufsleben noch einmal Freiheit zu schnuppern, setzen die wandernden Gesellen nach ihrer Lehrzeit schon seit Jahrhunderten um. Ziel ihrer Reisen ist es vor allem, neue Arbeitspraktiken sowie unbekannte Orte und Länder kennenzulernen. „Manchmal lernt man auch, wie man es nicht machen sollte“, frotzelte Luca Goldbeck beim Interview in Ripsdorf. Wobei es nicht ganz einfach ist, unterwegs irgendwo Arbeit zu finden. Unterstützung gibt es manchmal von sogenannten Schächten.

Das sind Vereinigungen von Handwerkern, die auf Wanderschaft sind oder waren. Die Schächte führen schillernde Namen wie die „Rechtschaffenen Fremden“, die „Rolandsbrüder“, der „Fremde Freiheitsschacht“ oder der „Freie Begegnungsschacht“.

„Wenn wir in eine neue Stadt gekommen sind, haben wir in den Handwerksbetrieben nachgefragt, ob es Arbeit für uns gibt“, erzählte Kirsten Berg nach ihrer Rückkehr in die Heimat.

Wenn es in den Schreinereien noch einen Altmeister gab, der selbst einmal auf der Walz war, dann stiegen die Chancen auf eine vorübergehende Beschäftigung schlagartig. Von den Kollegen werden die Wandergesellen in ihrer auffälligen Kluft überwiegend freundlich behandelt. Brauer Ingo bekam allerdings auch schon mal zu hören: „Was willst du denn hier, du Affe.“

Man darf sich jedenfalls für keine Arbeit zu schade sein, wenn man in der Fremde unterwegs ist und selten weiß, ob man in der Nacht ein Dach über dem Kopf hat und irgendwo etwas zu essen bekommt. Beim Lohn wird dagegen kein Kompromiss gemacht.

„Wir werden – zumindest in Deutschland – nach Tarif bezahlt“, erzählt Jonas Vogel aus Abstadt bei Heilbronn. Die Auszahlung erfolgt meist wochenweise. Es soll auch schon vorgekommen sein, dass ein Arbeitgeber versucht hat, Wandergesellen um ihren Lohn zu prellen. So etwas spricht sich unter den reisenden Handwerkern schnell herum.