War die Sicherheitstechnik defekt?Fragen und Antworten zur Irrfahrt der Linie 66
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Bonn – Nach der Irrfahrt einer Stadtbahn der Linie 66 mit einem bewusstlosen Fahrer in der Nacht zum Sonntag laufen die Untersuchungen auf Hochtouren. Die in solchen Fällen zuständige Technische Aufsichtsbehörde (TAB) NRW nahm zusammen mit Ermittlern der Polizei die Stadtbahn am Montag auf dem Betriebshof der Stadtwerke Bonn (SWB) in Dransdorf unter die Lupe. „Das ist bei Unfällen oder solchen Vorfällen ein vorgeschriebenes Prozedere“, erklärte Veronika John von der Pressestelle der SWB. Die Staatsanwaltschaft hat dagegen nach Angaben von Pressesprecher Sebastian Ruß ihre Ermittlungen schon so gut wie abgeschlossen. Da man davon ausgehen müsse, dass ein medizinischer Notfall bei dem Fahrer der Grund für den Vorfall gewesen und eine technische Ursache bislang auszuschließen sei, gebe es keinen Grund für weitere Untersuchungen. Auch die Polizei geht nach Angaben von Pressesprecher Robert Scholten bislang davon aus, dass die Stadtbahn technisch in Ordnung war.
Was war passiert?
Die Stadtbahn der Linie 66 war in der Nacht zu Sonntag gegen 0.40 Uhr von Siegburg in Richtung Bonn unterwegs gewesen, als Fahrgäste der Leitstelle der Polizei meldeten, dass der Fahrer seit Sankt Augustin-Mülldorf augenscheinlich nicht mehr ansprechbar sei und der Zug an mehreren Haltestellen nicht angehalten habe. Daraufhin wurden die Leitstelle der Stadtwerke informiert und die weiteren Maßnahmen abgesprochen. Ein 29- und ein 26-jähriger Mann hatten dann in Absprache mit Polizei die Tür eingeschlagen und sich dabei leicht an den Händen verletzt.
Das Fahrzeug konnte anschließend mit Hilfe der Einsatzleitstelle im Bereich der Haltestelle „Adelheidistraße“ gestoppt und so ein mögliches Unglück verhindert werden. Um 0.50 Uhr hatten alle Fahrgäste die Bahn bereits verlassen. In den beiden Wagen haben sich laut Polizeipressesprecher Scholten gut 20 Fahrgäste aufgehalten. Das habe die Auswertung von Kameraaufnahmen ergeben. Auf den Aufnahmen ist laut Scholten auch zu erkennen, dass die Bahn nach dem medizinischen Notfall des Fahrers langsamer geworden sei.
Wie viele Haltestellen war die Bahn ohne Fahrer unterwegs?
Die Bahn brauste laut SWB an acht Stationen vorbei, ohne anzuhalten. Dabei überquert sie auch einige Bahnübergänge, an denen die Schranken wohl nicht geschlossen waren. Das kann nach angaben von Jörn Zauner, Betriebsleiter Bahn der SWB, an Haltestellen der Fall sein, die unmittelbar vor Schrankenanlagen liegen. Dort schließen sich die Schranken nämlich nicht bei der Anfahrt des Zuges, sondern erst, wenn die Bahn nach dem Halt ihre Fahrt fortsetzen will. Wenn dort, wie im aktuellen Fall, die Bahn aber nicht stoppt und einfach weiterfährt, sind die Schranken offen. An wie vielen Haltestellen das in der betreffenden Nacht der Fall war konnten die Stadtwerke am Montag nicht sagen. Das gilt auch für die Geschwindigkeit, mit der der Zug unterwegs war.
Was wird jetzt untersucht?
Das TAB wertet den Fahrtenschreiber und andere Daten aus und lässt sich die Liste mit den Wartungsintervallen zeigen. Außerdem wird laut John die Fahrerkabine untersucht und geprüft, ob die Sicherheitsfahrschaltung (Sifa), die auch als Totmannschalter bezeichnet wird, funktioniert hat. Die Schaltung soll verhindern, dass Züge im Fall einer Handlungsunfähigkeit des Zugführers unkontrolliert weiterfahren. Das System in den Bahnen der Stadtwerke besteht nach Angaben von John aus einem Schalter und einem Fußhebel, von denen mindestens einer gedrückt sein muss, damit die Bahn weiterfährt. Anders sieht es bei den Zügen der Deutschen Bahn AG aus. Bei ihnen muss der Lokführer ein Fußpedal oder einen Taster gedrückt halten und in kurzen Intervallen diesen Druck aktiv unterbrechen. Unterlässt er dies, wird der Zug automatisch zwangsgebremst, erklärte eine Bahnsprecherin auf Anfrage.
Was war mit Notbremse?
Die Bahn fuhr weiter, obwohl Fahrgäste die Notbremse gezogen hatten. Das ist aber laut Stadtwerke so vorgesehen. Auf offener Strecke gibt es nur ein Signal an den Fahrer, der dann die Fahrgäste informieren und die Notbremsung einleiten soll. Damit soll laut John zum Beispiel verhindert werden, dass eine brennende Bahn in einem Tunnel stehen bleibt. Nur bis acht Sekunden nach dem Schließen der Türen ist die Bremse wirksam, damit schnell reagiert werden kann, wenn jemand vor den Zug fällt oder mit der Jacke in der Tür hängen bleibt. Etwas anders funktioniert das System bei der Deutschen Bahn. Dort wird nach dem Ziehen der Notbremse durch einen Fahrgast der Zug automatisch und unmittelbar abgebremst. Bei Zügen, die auf Strecken mit Tunneln unterwegs sind, gibt es die aber eine sogenannte Notbremsüberbrückung. Sie ist nach Angaben der Bahnsprecherin zwingend für die Sicherheit an Bord vorgeschrieben. Damit soll sichergestellt werden, dass der Zug erst an einem geeigneten Ort außerhalb des Tunnels oder in einem Tunnelbahnhof zum Halten kommt und Rettungskräfte eingreifen können.
Welche Sicherheitstechnik gibt es außerdem?
Wenn die manuelle Türentriegelung betätigt wird, kann der Fahrer kein Gas mehr geben. Die Bahn rollt langsam aus und bleibt irgendwann stehen. Alle diese Sicherheitssysteme sind in der Verordnung über den Bau und Betrieb der Straßenbahnen (BOStrab) geregelt und sind, wie ein Sprecher der Kölner Verkehrsbetriebe auf Nachfrage bestätigte, bundesweit gleich. So eine Geisterfahrt wäre also auch in Köln möglich.
Wie geht es dem Fahrer?
Der 47- Jahre alte Fahrer hatte bereits am Sonntag das Krankenhaus wieder verlassen können. Er ist laut John aber weiter krank geschrieben und wird eine psychologische Betreuung in Anspruch nehmen. Die bieten die Stadtwerke Fahrern an, die traumatische Situationen wie beispielsweise Suizidversuchen ausgesetzt waren. Der 47-Jährige ist nach Angaben der Stadtwerke erst seit dem Herbst im Unternehmen. Er habe alle medizinischen Untersuchungen bestanden.
Welche Reaktionen gibt es?
Die Empörung in der Politik ist groß, Konsequenzen werden wie so oft gefordert. Oberbürgermeister Ashok Sridharan erwartet von den Stadtwerken eine gründliche Aufklärung des Vorfalls. Der Bonner Verkehrsausschussvorsitzende Rolf Beu (Grüne) will nicht „länger hinnehmen, dass bei Stadtbahnen anders als im Eisenbahnverkehr die Betätigung der Notbremse lediglich zum Alarmieren des Fahrers führt“. Gegebenenfalls müssten die Vorschriften der BOStrab überarbeiten werden. Ferner solle auf den Überlandstrecken über zugbeeinflussende Signalsicherungen nachgedacht werden.
Augenzeugenbericht
Bei der Fahrt mit dem Geisterzug der Linie 66 hat ein Reisender viermal vergeblich die Notbremse gezogen. Da die Straßenbahn immer noch nicht anhielt, brachen Fahrgäste dann die Fahrerkabine auf und stoppten den Zug. „Es war eine Stimmung, wie man sie aus einem Katastrophenfilm kennt“, sagte der 55-jährige Michael Heinrich aus Bornheim am Montag nach der Horrorfahrt der Deutschen Presse-Agentur. Zuvor hatte der „Express“ bereits mit dem Fahrgast gesprochen. Heinrich hatte in dieser Nacht in der Straßenbahn von Siegburg nach Bonn gesessen. Zuerst habe er nicht verstanden, was passiert. „Plötzlich brach Panik aus“, sagte der 55-Jährige, der an dem Abend bei einem Konzert in Siegburg war. Erst da habe er den Ernst der Lage erkannt. „Ich habe viermal die Notbremse gezogen“, erklärte der Bornheimer. „Dann kam sie Gott sei dank vor der Straße zum Stehen“, sagt Heinrich. Denn bis zu dieser Haltestelle fährt die Bahn nicht auf der Straße, sondern parallel dazu. (r.)
So kann laut Beu verhindert werden, dass eine Bahn bei roten Signalen und geöffneten Schranken weiterfährt. Auch der Sankt Augustiner Kreistagsabgeordnete und SPD-Landratskandidat Denis Waldästl fordert ein neues Notfallkonzept: „Dass die Notbremse keinen Halt der Straßenbahn, sondern lediglich ein Signal an den Fahrer auslöst, muss dringend auf den Prüfstand .“ Johannes Schott, Stadtverordneter der Fraktion des Bürger Bunds Bonn fordert, „dass die Stadtwerke die möglichen Sicherheitslücken schnell beseitigen und umgehend darlegen, wie sie in Zukunft vergleichbare Fälle verhindern möchte.“