Ein Land, das es eigentlich nicht gibt, hegt Hoffnungen auf Unabhängigkeit. Nach 60 Jahren ist die Situation allerdings nach wie vor kompliziert. Abseits der politischen Situation besteht der Wunsch nach Anschluss und Vereinfachung schon länger.
Hoffnung auf UnabhängigkeitRepublik Nordzypern – Europas vergessene Ecke
Jonathan hievt seinen Koffer auf das Gepäckband. Der Mittsechziger aus England hat Ferien gemacht und will nach Hause – doch das ist nicht so einfach, wenn man sich Europas vergessene Ecke als Urlaubsziel ausgesucht hat. „Wir fliegen nach London-Stansted“, sagt Jonathan. „Na ja, irgendwann eben. Über Istanbul. Leider können wir von hier nicht direkt fliegen.“
Die Heimreise nach Stansted beginnt für Jonathan in der Abfertigungshalle eines nagelneuen Flughafens. Ein paar Passagiere verlieren sich in dem Riesenbau: 50 der 60 Check-in-Schalter sind geschlossen. Ercan heißt der Airport, und er verbindet die Türkische Republik Nordzypern (TRNZ) mit der Welt – was für sie heißt: mit der Türkei. Denn anderswohin kann man aus der TRNZ aus nicht fliegen. „Es wäre wirklich viel besser, direkt fliegen zu können“, sagt Jonathan. „Tja, das ist eben eine der Sachen, die durch die politische Situation erschwert werden.“
Die politische Situation der TRNZ meint Jonathan – eines winzigen Staates auf dem nördlichen Drittel von Zypern, der nach einem Bürgerkrieg zwischen Zyperngriechen und Zyperntürken, einem Putsch und Annexionsversuch griechischer Nationalisten, einer militärischen Intervention der Türkei und der Teilung der Insel gegründet wurde. Jetzt wird die TRNZ 40 Jahre alt: Der damalige türkisch-zyprische Volksgruppenführer Rauf Denktasch rief die Republik am 15. November 1983 aus.
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Am Tropf der Türkei
Es ist der Geburtstag eines Landes, das es eigentlich nicht gibt. Unter „Zypern“ wird international die griechische Inselrepublik im Süden Zyperns verstanden. Die TRNZ wird dagegen bis heute von keinem Land der Welt anerkannt – außer der Türkei. Die Welt reagierte auf die Gründung der TRNZ mit einem Handelsboykott. Die Türkei ist die einzige Verbindung der TRNZ zur Außenwelt. Türkische Unterstützung ist für den Zwergstaat in fast jeder Hinsicht überlebenswichtig.
Die TRNZ hat knapp 400000 Einwohner auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie Berlin und das Saarland zusammen, und ist damit wesentlich kleiner als die griechische Inselrepublik mit ihren 900000 Menschen. Als Währung dient die türkische Lira, Telefonnummern haben die türkische Ländervorwahl, selbst Post erreicht den Inselnorden über eine türkische Postleitzahl. Ankara hat 40000 Soldaten auf Nordzypern stationiert und zahlt jährlich mehrere Hundert Millionen Euro, um den Inselteil am Leben zu halten.
Trotzdem ist der Alltag von Nordzypern ganz anders als der in der Türkei. Wie im griechischen Inselteil gilt auf den nordzyprischen Straßen der Linksverkehr – ein Relikt aus der britischen Kolonialzeit, die 1960 endete. Türkische wie griechische Zyprer benutzen britische Stecker und Steckdosen. Es gibt ebenso viele indische Restaurants wie Kebab-Lokale.
Die Nordzyprer sind zudem weniger konservativ als die Bevölkerungsmehrheit in der Türkei. Zu den wenigen Einnahmequellen für die TRNZ zählen große Hotels mit angeschlossenen Casinos, die viele Türken anziehen, denn in der türkischen Republik ist Glücksspiel verboten. Alkoholwerbung, in der Türkei illegal, ist im Norden Zyperns allgegenwärtig. Auf den Straßen sind Frauen im Kopftuch die Ausnahme.
Auch bei Europäern zunehmend im Trend
Seit einigen Jahren entdecken Europäer den Charme Nordzyperns für sich. Zusätzlich verleihen Studenten aus mehr als hundert Ländern den größeren Städten in Nordzypern ein kosmopolitisches Flair. Auf den Straßen ist Urdu, Russisch und Yoruba ebenso zu hören wie Türkisch und Englisch. Fast 100000 junge Menschen studieren an englischsprachigen Universitäten von Nordzypern, die in Afrika und Asien einen guten Ruf haben – Nordzypern hat sich mit dem Bildungssektor ein wirtschaftliches Standbein geschaffen.
Doch alle Bemühungen der Vereinten Nationen um eine Lösung des Konflikts zwischen Griechen und Türken und eine Wiedervereinigung der Insel sind in den vergangenen Jahrzehnten gescheitert. Die vorerst letzte Verhandlungsrunde wurde 2017 abgebrochen. Die Positionen sind so weit auseinander, dass es seit 2021 nicht einmal mehr einen UN-Gesandten für Zypern gibt.
Wenn es nach Tahsin Ertugruloglu geht, wird ein neuer UN-Zypernbeauftragter nicht eine Wiedervereinigung anstreben, sondern eine Zwei-Staaten-Lösung. Ertugruloglus Regierung hat die Rückendeckung der Schutzmacht Türkei. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan forderte zuletzt im September vor der UN-Vollversammlung in New York die internationale Anerkennung der TRNZ. Das kommt für die griechische Seite nicht infrage, wie der Athener Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis in seiner Gegenrede auf Erdogan in New York klarstellte: „Was Zypern anbelangt, so handelt es sich im Kern leider nach wie vor um eine illegale Besetzung, die gegen die Grundprinzipien der Charta der Vereinten Nationen verstößt“, sagte er über die türkische Militärintervention von 1974. Die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats fordern eine föderale Lösung für Zypern, also die Wiedervereinigung der Insel in einem föderalen Staat.
EU: Keine Zwei-Staaten-Lösung
Auch die EU lehnt eine Zwei-Staaten-Lösung auf Zypern ab, wie Brüssel im jüngsten Fortschrittsbericht zum Beitrittskandidaten Türkei bekräftigte. Ankara erkennt die griechische Republik Zypern nicht an, obwohl diese zur EU gehört und Ankara offiziell ebenfalls den Beitritt zur EU anstrebt. Die Türkei und die zyperntürkische Regierung werfen Europa vor, das Zypern-Problem mit der Aufnahme des griechischen Inselstaates im Jahr 2004 verschlimmert zu haben. Damals hatten Griechen und Türken auf der Insel über einen Friedensplan der UN abgestimmt. Die Einigung scheiterte am Nein der Inselgriechen – die kurz darauf trotzdem der EU beitreten durften, während die türkischen Zyprer draußen blieben.
Die einseitige Aufnahme der griechischen Zyprer sei ein Fehler gewesen, sagt der frühere britische Außenminister Jack Straw heute. Die EU habe damit den Vorsitz über einen eingefrorenen Konflikt übernommen und die Möglichkeit aus der Hand gegeben, die griechischen Zyprer zu einem Kompromiss zu bewegen, schrieb Straw kürzlich in der Zeitschrift „Politico“. Auch Straw plädiert heute für eine Zwei-Staaten-Lösung.
Unter Experten ist diese Ansicht umstritten. Ein türkisch-zyprischer Staat wäre nicht lebensfähig, meint Dimitrios Triantaphyllou, Türkei-Experte an der Panteion-Universität in Athen. „Ein unabhängiges Nordzypern würde nicht nur alle Gelder verlieren, die es bis jetzt indirekt von der EU erhält“, sagte er unserer Redaktion. „Es wäre ein Anhängsel der Türkei.“ Dennoch sieht Triantaphyllou neue Bewegung im Verhandlungsprozess. „Ich glaube, es gibt einen neuen Schwung und ein Gefühl, dass dringend etwas getan werden muss.“
Am nordzyprischen Flughafen Ercan geht Jonathan, der britische Urlauber, zur Passkontrolle. Höchste Zeit sei es für eine dauerhafte Lösung, findet auch er.