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Missbrauchsfall in Avignon„Man soll sich an mich erinnern“

Lesezeit 6 Minuten
Gisèle Pelicot

Gisèle Pelicot

In der nächsten Woche endet der Prozess um die vielfachen Vergewaltigungen von Gisèle Pelicot. Wird es „ein Vorher und ein Nachher“ und einen Wandel in der französischen Gesellschaft geben?

Anfangs kam sie in leichten Sommerkleidern ins Gericht. Eine kleine, runde Sonnenbrille verdeckte ihre Augen, als eine Art minimaler Schutz vor all den Blicken. Inzwischen ist das Jahr fortgeschritten, Gisèle Pelicot trägt Winterjacken und längst keine Brille mehr. Mit ihrem rötlichen Pagenkopf ist sie eine national bekannte Figur geworden, manche Feministinnen nennen sie eine Ikone. Graffitis von ihrem Gesicht zieren Straßenmauern in mehreren französischen Städten.

Gisele Pelicot beim Verlassen des Gerichtsgebäudes

Gisele Pelicot beim Verlassen des Gerichtsgebäudes

An fast jedem Wochentag seit dreieinhalb Monaten brandet Applaus auf, sobald sie am Gerichtsgebäude von Avignon erscheint. Er stammt überwiegend von Frauen, die oft schon seit den frühen Morgenstunden hier sind, um einen Platz im Nebensaal zu ergattern. „Bravo, Gisèle!“, rufen manche, „Wir sind bei Ihnen!“, andere. „Merci“, antwortet Gisèle Pelicot dann lächelnd, formt die Hände zum Dank, nickt ihnen freundlich zu.

Gisèle Pelicot: Kein Rückzug aus der Öffentlichkeit

Bei der Prozessvorbereitung sei ihr Anwalt Stéphane Babonneau davon ausgegangen, dass seine Mandantin diesem nur anfangs folgen, sich dann zurückziehen würde. Aber das könne sie nicht, nun da sie sehe, dass manche einen Urlaubstag nähmen, um sie vor Ort zu unterstützen. Auf ihrem Weg ins oder aus dem Gericht trippeln oft Fotografen und Kameraleute vor ihr her, um Bilder von ihr einzufangen. Gisèle Pelicot blickt über sie hinweg und wirkt doch mitunter angestrengt, erschöpft von diesem Rummel, der nun bald aufhören wird.

In der nächsten Woche endet mit der Verkündung der Urteile der Prozess, den die französische Presse als „historisch“ bezeichnete. Zum einen in Bezug auf die hohe Zahl der 51 Angeklagten und des Ausmaßes der Taten: Fast zehn Jahre lang lud ihr früherer Ehemann Dominique Pelicot, von dem Gisèle nun geschieden ist, über eine inzwischen verbotene Internetseite Männer in ihr Zuhause im südfranzösischen Mazan ein, um seine Frau gemeinsam zu vergewaltigen, nachdem er sie mit Medikamenten, die er ihr ins Essen mischte, in einen komatösen Zustand versetzt hatte. Die Taten filmte er und speicherte sie unter vulgären Stichworten ab.

Dominique Pelicot: Unter die Röcke von Frauen gefilmt

Nur zufällig kam ihm die Polizei auf die Schliche: Sie beschlagnahmte seine Computer, Festplatten und sein Handy, nachdem Dominique Pelicot in einem Supermarkt unter die Röcke von Frauen gefilmt hatte. Sonst hätte die permanente Verabreichung starker Schlafmittel Gisèle laut Medizinern irgendwann umbringen können. Sie hatte schwere gesundheitliche Probleme wie Erinnerungslücken und Schlafstörungen, ohne sich die Ursache erklären zu können; nicht ahnend, dass ihr eigener Mann, der Vater ihrer drei Kinder, dahintersteckte. „Wie konntest du mich derart hintergehen?“, wandte sie sich an ihn in seiner Angeklagten-Box. Eine „zerstörte Frau“ sei sie, so stark sie nach außen hin auch wirke.

Nicht alle der rund 70 bis 80 Männer auf den Videos konnten identifiziert werden. 49 standen nun vor Gericht sowie Dominique Pelicot und ein weiterer Mann, der nicht Gisèle Pelicot vergewaltigt hatte, sondern gemeinsam mit diesem seine eigene, ebenfalls betäubte Frau. Die Angeklagten haben verschiedenste Berufe: Elektriker, Informatiker, Soldat. Manche sind im Rentenalter, andere waren zum Tatzeitpunkt gerade einmal Anfang 20. Die wenigsten räumten ihre Schuld ein, viele sprachen von Manipulation und Einschüchterung durch Dominique Pelicot. „Ich hatte nicht die Absicht zu vergewaltigen“, sagten die meisten, so als enthebe sie das Fehlen einer Absicht der Verantwortung.

Gisele Pelicot steht neben ihren Anwälten Antoine Camus (M) und Stéphane Babonneau (l) während einer Pause im Gerichtsgebäude von Avignon für den Prozess gegen ihren ehemaligen Partner Dominique Pelicot

Gisele Pelicot steht neben ihren Anwälten Antoine Camus (M) und Stéphane Babonneau (l) während einer Pause im Gerichtsgebäude von Avignon für den Prozess gegen ihren ehemaligen Partner Dominique Pelicot

Der 54-Jährige Ahmed D. sagte, wäre er ein Vergewaltiger, hätte er sich doch nicht eine 57-Jährige, sondern „eine Schöne...“ ausgesucht. Bei der Aussage des 43-jährigen Vincent C., er habe nicht nachgedacht, schnellen Sex gesucht und eben „genommen, was kommt“, verließ die sonst so stoische Gisèle Pelicot empört den Verhandlungssaal. Ein weiteres Mal tat sie das beim Plädoyer der Anwältin Sylvie Menvielle, die auf den Videos mit ihrem Mandanten Husamettin D. ein „sexuelles Spiel zu dritt“ erkannte, bei dem die – tief betäubte – Frau „ihre Hüften in Stellung“ bringe.

Wenn das Opfer Schuld in die Schuhe geschoben bekommt

Immer wieder in diesen vergangenen Monaten war das Opfer mit dem Vorwurf konfrontiert worden, irgendeine Form der Mitverantwortung zu haben. Es handelt sich um ein uraltes Muster bei der Rechtfertigung von Vergewaltigungen, betonen Feministinnen. „Manche Verteidigungsstrategien haben nicht mehr ihren Platz in einem Gerichtssaal in Frankreich im 21. Jahrhundert“, sagte Antoine Camus, Gisèle Pelicots zweiter Anwalt.

Als herausragend gilt das Verfahren auch, weil es sieben Jahre nach Beginn der aus den USA kommenden #Metoo-Bewegung einer gesellschaftlichen Debatte in Frankreich neue Kraft verleiht. Hat das patriarchal geprägte System Taten wie jene in Mazan ermöglicht, bei denen Männer das Einverständnis zum Sex mit einer leblos daliegenden Frau durch ihren Gatten als ausreichend ansahen? Werden Vergewaltigungen weiterhin relativiert, wenn sie nicht von vermeintlich „typischen“ Sexualverbrechern begangen werden, die ihren Opfern nachts im Park auflauern – sondern von in die Gesellschaft integrierten Bürgern mit einem Beruf, einer Familie, Freunden?

„Es gibt es einen echten Wandel im Vergleich zur bisherigen Berichterstattung über Vergewaltigungen, da ausnahmslos alle Zeitungen, auch die konservativen, diesen Prozess behandeln, sie kommen gar nicht darum herum“, sagt die Forscherin Claire Ruffio, spezialisiert auf die Medienberichterstattung über Vergewaltigungen seit 1980. Entscheidend mit angetrieben habe diesen Umbruch Gisèle Pelicot selbst, indem sie auf sexuelle Gewalt als allgemeines Problem verwies, das ihr eigenes Schicksal übersteige. „Es wird Zeit, dass sich die Macho-Gesellschaft, die Vergewaltigungen banalisiert, ändert“, sagte sie. Dafür kämpfe sie, deshalb komme sie jeden Tag.

Ruffio zufolge konzentrieren sich manche Journalisten auf die individuellen Schicksale der Täter, erklärten ein Verbrechen durch deren Lebenslauf und Psychologie; tatsächlich machten viele der Angeklagten, auch Dominique Pelicot selbst, in jungen Jahren traumatisierende Erfahrungen, erlebten sexuellen Missbrauch, Gewalt, Verwahrlosung. Aber eben nicht alle. Zugleich werde das Thema laut Ruffio „auch verstärkt von einem soziologischen Blickwinkel auf das gesellschaftliche Umfeld mit der vorherrschenden männlichen Dominanz aus betrachtet“. Diese Tendenz nehme seit Jahren an Fahrt auf, auch durch #Metoo oder schwerwiegende Vorwürfe im Kino-Milieu, etwa gegen Gérard Depardieu.

Aber nun in Avignon gehe es nicht um Prominente, sondern „um das Paradox, dass vermeintlich normale Menschen so unglaubliche Taten begehen konnten“. Ob sich wirklich etwas ändere, lasse sich heute noch nicht sagen. Der Prozess finde auch durch seine Öffentlichkeit so hohe Beachtung.

Durch die riesige Aufmerksamkeit liegt auf dem Gericht großer Druck. Die Staatsanwaltschaft hat relativ hohe Strafen gefordert: 20 Jahre Haft für Dominique Pelicot, für die anderen Männer zwischen zehn und 18 Jahren Gefängnis, nur für einen vier Jahre. Es gehe darum, „die Beziehungen zwischen Männern und Frauen tiefgreifend zu ändern“, sagte Staatsanwalt Jean-François Mayet. Durch das Urteil „werden Sie uns in der Erziehung unserer Söhne anleiten, denn die Erziehung bedingt den Wandel“, appellierte Staatsanwältin Laure Chabaud an das Gericht. In Bezug auf den Prozess werde es für die französische Gesellschaft „ein Vorher und ein Nachher geben“.

Gisèle Pelicots Anwälte hatten auf die historische Dimension des Prozesses und der anstehenden Urteile verwiesen. Diese seien „das Testament, das wir den künftigen Generationen übertragen werden“. Der Name von Gisèle Pelicot werde nachklingen.