AboAbonnieren

Israels muslimische Armeesprecherin Ella Waweya„Der Hass gibt mir nur noch mehr Antrieb, diesen Job zu machen"

Lesezeit 7 Minuten
Ella Waweya lächelt in die Kamera

Ella Waweya ist so etwas wie eine Armee-Influencerin.

Eine der bekanntestesten Vertreterinnen der israelischen Armee ist gläubige Muslimin arabischer Herkunft: Armeesprecherin „Captain Ella“ Waweya versucht der arabischen Welt die Sicht ihres Landes im Gaza-Krieg zu erklären.

Als die Hamas am 7. Oktober in Israel einfällt, ist Ella Waweya gerade in New York. Sie hat sich eine kleine Auszeit genommen, um ihr zehntes Jahr im Dienst der israelischen Armee zu feiern. Doch plötzlich ist alles anders. Umgehend tritt sie den Rückweg an. Heute, mehr als acht Wochen später, steht ihr Koffer immer noch unausgepackt in ihrem Büro. Zu Hause war sie seither nie – ihr Arbeitsplatz ist zu ihrer Wohnung geworden. An der Wand lehnt eine kleine Matratze, auf der sie schläft, an der Tür hängen Sportkleider und ein Frotteetuch zum Trocknen.

„Wenn ich nicht hier bin, habe ich immer das Gefühl, etwas zu verpassen“, sagt Waweya. „Mein Beruf ist derzeit wirklich 24/7.“ Pechschwarze Haare umrahmen ihr Gesicht mit den (trotz allem) wachen Augen und dem breiten Lachen. Als Armeesprecherin ist sie ständig auf Abruf, im Sekundentakt surrt ihr Handy. Es sind Presseanfragen von Journalisten aus Ägypten, Saudiarabien oder Jordanien, die Informationen über den Krieg im Gazastreifen oder ein Interview wollen.

Vor allem ist Waweya aber so etwas wie eine Armee-Influencerin: In professionell gemachten Videos auf Instagram, Tiktok und Youtube erklärt sie der arabischen Welt den Krieg gegen die Hamas – nicht auf Englisch oder Hebräisch, sondern in ihrer Muttersprache Arabisch. Allein auf Tiktok folgen ihr fast 170000 Menschen. Obwohl Ella Waweya eigentlich Majorin ist, wird sie von allen nur „Captain Ella“ genannt. Der Name habe sich in den sozialen Netzwerken halt durchgesetzt, sagt die 34-Jährige.

Wenn man bedenkt, dass der Hass auf Israel in der arabischen Welt noch größer ist als anderswo, dann hat sich Waweya keine einfache Aufgabe ausgesucht. Vielleicht aber ist niemand besser dafür geeignet als sie: Als israelische Staatsbürgerin und gläubige Muslimin vereint sie zwei Welten in sich, die allzu viele für nicht kompatibel halten. Waweya beweist das Gegenteil – und trotzdem hat auch sie lange um ihre Identität gerungen, um Anerkennung und Verständnis.

Wer bin ich?

Ella Waweya wächst als jüngstes von fünf Kindern in Kalansawe auf, einer Kleinstadt nordöstlich von Tel Aviv, wo fast alle Einwohner arabischsprachige Muslime sind. Ihre Familie ist gläubig und konservativ, mit dem Staat Israel verbindet sie nicht viel mehr als die Postleitzahl und die Staatsbürgerschaft. Als 12-Jährige sieht Waweya auf al-Jazeera, wie sich die Palästinenser während der zweiten Intifada gegen Israel auflehnen, und lernt vom katarischen Fernsehsender, dass Israel an der ganzen Gewalt und dem Leid schuld sei.

„Ich fragte mich damals oft: Wer bin ich? Zu welcher Seite gehöre ich?“, erzählt Waweya. Eine erste Antwort erhält sie per Post: „Auf meinem blauen Ausweis las ich zum ersten Mal, dass ich Israelin bin.“

Mit 19 zieht sie von zu Hause aus, studiert Kommunikation. Parallel leistet sie freiwillig Nationaldienst in einem Spital. In diese Zeit fällt ein Ereignis, das sie als „Schlüsselmoment“ bezeichnet: An einem Journalismus-Kongress in Eilat hört sie, wie ein Ultraorthodoxer sich gegen den Militärdienst für seine Gemeinschaft ausspricht. „Ich bin aufgestanden und sagte: Ich würde dienen, wenn ich könnte. Du solltest dich schämen. Plötzlich haben alle applaudiert. Ich verstand nicht, weshalb“, erzählt sie.

Erst da realisiert sie, dass der Militärdienst auch arabischen Israeli offensteht. Zufällig ist am Kongress auch der damalige Armeesprecher Yoav Mordechai zugegen. „Er kam zu mir und sagte: Ich salutiere.“ Zwei Tage später hat sie ihr Vorstellungsgespräch bei der Presseabteilung der Armee. Am 11. September 2013 tritt sie in die IDF ein.

Missgunst und Stolz

Während anderthalb Jahren erzählt Waweya ihrer Familie nichts von ihrem neuen Job. Zu groß ist die Angst vor der Reaktion. Wo sie herkommt, hat die Armee einen schlechten Ruf, werden Soldaten als Unterdrücker gesehen. „Wenn ich nach Hause ging, legte ich die Uniform ab. Meine Eltern haben ohnehin nie groß nachgefragt, wo ich arbeite“, erzählt sie.

Doch 2015 kommt die Wahrheit ans Licht. Waweya wird gemeinsam mit anderen Armeeangehörigen vom israelischen Präsidenten als „herausragende Soldatin“ geehrt. Am nächsten Tag steht in der Zeitung, dass unter den Ausgezeichneten auch eine Ella aus Kalansawe sei.

„In meiner Stadt gibt es nicht so viele Ellas“, sagt sie. „Am gleichen Tag erhielt ich unzählige Anrufe von Freunden und Familienmitgliedern. Viele sagten, ich hätte meine Gemeinschaft verraten.“ Ihre Mutter habe damals viel geweint. Gegenüber Freunden habe sie gesagt, ihre Tochter sei eine Journalistin, die über die Armee schreibe.

Ihr Vater hingegen habe seine Gefühle nie mitgeteilt. 2020 starb er an Corona. „Ich habe erst nach seinem Tod erfahren, dass er stolz auf mich war“, sagt sie. Ihre sonst so sichere Stimme wird kurz brüchig. „Seine Freunde haben mir erzählt, dass er stets ein Bild von mir in Uniform bei sich trug, das er allen zeigte.“

Ein Appell an die Mütter in Gaza

Einmal unterbricht Waweya das Gespräch, entschuldigt sich und sagt, das könne leider nicht warten. Sie nimmt ihr Handy und spricht ruhig einige Sätze auf Arabisch ins Mikrofon. Dann wendet sie sich wieder ihren Besuchern zu und erklärt, sie habe soeben eine Sprachnachricht aufgenommen, in der sie die Mütter im Norden des Gazastreifens dazu aufrufe, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen, das Gebiet zu verlassen. „Es wirkt anders, wenn dieser Aufruf von einer Frau kommt“, sagt sie.

Am Fernseher in ihrem Büro läuft al-Jazeera, schreckliche Szenen aus Gaza flimmern über den Bildschirm. Was macht es mit ihr, wenn sie ihrem Publikum das Vorgehen der Armee, die Zerstörung und das Leid der Zivilbevölkerung erklären muss? Routiniert zieht sie ein blaues Büchlein aus der Brusttasche. „Etwas, auf das ich sehr stolz bin, ist der Ethik-Kodex der Armee. An erster Stelle steht das Leben der Menschen. Meine Aufgabe ist es, die Bevölkerung zu schützen und zu warnen“, sagt sie.

Waweya weiß, dass ihre Worte bei vielen Menschen in der arabischen Welt gar nicht erst ankommen, auf Verachtung stoßen. Trotzdem glaubt sie nicht, dass Israel den Informationskrieg im Nahen Osten bereits verloren habe. „Ich denke, dass die Welt immer mehr versteht, was die Hamas wirklich ist. Viele Muslime haben am 7. Oktober realisiert, dass diese Terroristen nur töten wollen“, sagt sie. Sie sehe sich auch als Brückenbauerin zwischen Israel und den Palästinensern und wolle vor allem die jungen Menschen in der arabischen Welt erreichen.

Trotzdem ist Waweya auch eine Zielscheibe von Hass und Drohungen. „Du hast einen speziellen Platz in der Hölle“ oder „Niemand liebt dich“ gehören noch zu den anständigeren Kommentaren unter ihren Videos. Sie sagt: „Der Hass gibt mir nur noch mehr Antrieb, diesen Job zu machen. Ich erhalte aber auch viel Zuspruch.“

„Die israelische Armee ist ein Schmelztiegel“

Während ihre Mitarbeiter im Nebenzimmer das neuste Video für Instagram schneiden und mit pathetischer Musik unterlegen, erzählt Waweya, dass sie inzwischen auch ihre Mutter wieder hinter sich wisse. Sie sei es gewesen, die ihr 2021 an einer Zeremonie, bei der sie zur Majorin befördert worden sei, die neuen Rangabzeichen an den Schultern befestigt habe.

Wenig später erkrankte die Mutter an Krebs. „Bevor ich sie im Spital besuchte, bat sie mich, ich solle doch bitte in Uniform kommen“, sagt sie und zeigt auf ihrem Handy stolz ein Bild von dem Zusammentreffen. Nicht zuletzt habe ihre Geschichte auch zahlreiche weitere arabische Israeli dazu inspiriert, Militärdienst zu leisten, insbesondere in ihrem Heimatort Kalansawe. „Die israelische Armee ist ein Schmelztiegel, hier gibt es Leute aus allen Kulturen. Das sagt viel über Israel aus“, sagt sie. „Ich habe in der Armee meine zweite Familie gefunden.“

Als Waweya sich verabschiedet, ist es fast 18 Uhr. Trotzdem zeigt ihr Kalender noch drei Sitzungstermine für diesen Abend an. Joggen gehen wolle sie danach auch noch. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis „Captain Ella“ ihren Koffer von den Ferien in New York auspackt.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung.