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Interview

Islamismus-Experte
„Terrorgefahr in Deutschland bleibt unverändert hoch“

Lesezeit 3 Minuten
ARCHIV - 16.11.2023, Hamburg: Einsatzkräfte der Polizei stehen während einer Razzia beim islamischen Zentrum Hamburg vor der Imam Ali Moschee (Blaue Moschee) an der Außenalster

Hamburg: Einsatzkräfte der Polizei stehen während einer Razzia beim islamischen Zentrum Hamburg vor der Imam Ali Moschee (Blaue Moschee)

Über die aktuellen Gefahren in Deutschland, die vom Salafismus ausgehen, hat Marie Busse mit Kaan Orhon gesprochen.

Kaan Orhon, Islamwissenschaftler bei der Beratungsstelle „Grüner Vogel“ in Bonn und Experte für die islamistische Szene.

Herr Orhon, wie groß ist die Bedrohung durch islamistische Gruppierungen in Deutschland im Moment?

Die Gefahr von Terroranschlägen geht hauptsächlich vom Salafismus aus und ist unverändert hoch. Es gibt ungefähr aktuell schätzungsweise 12500 Salafisten in Deutschland. Dazu zählen etwa Gruppen, die dem sogenannten Islamischen Staat (IS) oder Al-Kaida nahestehen. Hinzu kommen Gruppierungen, die sich im Rahmen der Gesetze bewegen und von denen kein Anschlagsrisiko ausgeht. Dazu zählt etwa die Muslimbruderschaft. Insgesamt werden etwa 22000 Personen der islamistischen Szene zugeordnet. Bei fünfeinhalb Millionen Muslimen in Deutschland ist der Anteil verschwindend gering.

Welche Ziele verfolgen diese Gruppen?

Grundsätzlich streben alle islamistischen Gruppen danach, einen islamischen Staat oder eine islamische Gesellschaftsordnung zu errichten, und das auf Grundlage einer sehr rückständigen Auslegung des Islams. Unterschiedlich ist der Fokus, wo und wie das passieren soll. Gruppen wie der IS versuchen, das durch Gewalt herbeizuführen. Gruppen wie die Muslimbruderschaft hingegen gründen Parteien und versuchen, durch Wahlen an die Macht zu kommen.

Wie gehen Islamisten bei der Rekrutierung neuer Mitglieder vor?

Bei Salafisten ist es so, dass sie die Menschen proaktiv ansprechen. Es gibt seit Jahren diesen saloppen Spruch: Die Salafisten sind die besten Sozialarbeiter – und das stimmt in gewisser Weise auch. Sie nutzen Social Media und andere Kanäle, um verschiedene Gruppen, wie Erwachsene, Jugendliche und Kinder, Männer und Frauen, gezielt anzusprechen. Die Rekrutierung wird sorgfältig geplant und erfolgt mit einer klaren Strategie. Zum Beispiel werden Männer mit militärischen und gewalttätigen Themen angesprochen, bei Frauen wird eher auf Themen wie Mutterschaft und Familie gesetzt. Kinder und Jugendliche werden durch Populärkultur, von SpongeBob bis Call of Duty, angesprochen. Diese gezielte Ansprache war in den letzten Jahren besonders erfolgreich. Deswegen ist die Szene über viele Jahre stark gewachsen.

Ist das Netz bei der Rekrutierung wichtiger als persönlicher Kontakt?

Das Internet ist wichtig, keine Frage. Aber basierend auf unseren Erfahrungen findet der erste Kontakt in der überwiegenden Mehrheit der Fälle nicht online statt. Das heißt, man kommt persönlich mit der Szene in Kontakt: auf der Straße, im Jugendzentrum, in der Schule, im Fitnessstudio, in der Moschee, wo auch immer. Oft geschieht das durch Leute, die bewusst rekrutieren oder, was auch häufig vorkommt, durch Personen aus dem Bekanntenkreis, die bereits in der Szene sind, wie Mitschüler, Freunde oder entfernte Familienmitglieder. Wenn also dieser erste Kontakt im realen Leben, also offline, stattgefunden hat, verlagert sich das oft ins Internet, wo diese Entwicklung dann weiter vorangetrieben wird.

Oft wird in Videos auch der aktuelle Nahost-Konflikt thematisiert. Welche Rolle spielt er für islamistische Kreise in Deutschland?

Das ist von Strömung zu Strömung sehr unterschiedlich. Wir bemerken, dass alle den Konflikt in irgendeiner Form für sich nutzen wollen, auch wenn sie eigentlich nichts damit zu tun haben. Für IS-nahe Gruppen ist das eigentlich kein Thema, weil sie ein globales Kalifat anstreben, in dem für einen Palästinenserstaat folglich auch kein Platz ist. Sie versuchen einfach auf den fahrenden Zug aufzuspringen, um Menschen zu mobilisieren. Bei allen Gruppierungen beobachten wir, dass sie sehr emotionalisierende Inhalte verbreiten und die Zuschauer so erreichen wollen. Dann bieten sie sich selbst als Gruppe an, die etwas für die Palästinenser tut, was de facto nicht der Fall ist. Hamas-nahe Gruppen sind in Deutschland zahlenmäßig zu vernachlässigen.