Bei den Parlamentswahlen am 4. Juli droht den Konservativen das schlechteste Ergebnis aller Zeiten – aber auch die Labour-Partei löst keine Begeisterung aus. Wie ist die Stimmung im Königreich?
Analyse vor Großbritannien-Wahl„Die Leute haben die Nase voll“
Rhea Keehn wirkt lebhaft und energisch, als sie in ihrem roten Jackett vor der Bibliothek von Kirkby-in-Ashfield, einer Stadt in den englischen Midlands, steht. Ihr Händedruck ist fest. Die Politikerin spricht schnell, als hätte sie keine Zeit zu verlieren. Tatsächlich hat die Labour-Kandidatin an diesem Tag viel vor. „Wir klopfen an Türen, führen Einzelgespräche, treffen Unternehmen und lokale Gemeindegruppen“, sagt sie. „Wir möchten herausfinden, was die Menschen erwarten, denn viele fühlen sich im Stich gelassen, haben die Hoffnung in ihre Politiker verloren.“
Auf den Flugblättern, die sie verteilt, steht vor allem ein Wort: Change, Veränderung. Das offizielle Motto der Labour-Partei. Damit will diese am 4. Juli die Parlamentswahlen in Großbritannien gewinnen, und allen aktuellen Umfragen zufolge wird es ihr auch gelingen. Immerhin liegt die Arbeiterpartei rund 20 Prozentpunkte vor den regierenden Konservativen, denen nach 14 Jahren an der Macht vernichtende Verluste drohen.
Der Niedergang der Tories ist zugleich die Auferstehung der Labour-Partei, zumindest landesweit betrachtet. Die Sozialdemokraten hatten den Wahlkreis nördlich von Nottingham 2019 verloren. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ging er mit einer großen Mehrheit an die Konservativen. Verantwortlich dafür war zum einen Boris Johnson, der mit seinem Charisma und dem Versprechen, den Brexit durchzuziehen, überzeugte, aber auch die abschreckende Wirkung des als radikal links geltenden Labour-Chefs Jeremy Corbyn. Die Red Wall, die „rote Mauer“, die sich von Küste zu Küste durch Mittelengland zog, fiel. Die Landkarte wurde blau, die Farbe der Tory-Partei.
Wahl in England: Konservative mit schwacher Bilanz
Doch seit 2019 hat sich viel verändert, wie der Politikwissenschaftler Tim Bale von der Queen Mary University of London erklärt. „Viele haben das Gefühl, dass die Konservativen versagt haben. Nichts funktioniert mehr. Alles scheint kaputt zu sein. Es gibt sehr lange Wartezeiten im Gesundheitswesen. Die Straßen sind voller Schlaglöcher“, sagt Bale. Die Liste könnte fortgesetzt werden: Da war der katastrophale Mini-Haushalt von Ex-Premierministerin Liz Truss, der die britische Wirtschaft im Herbst 2022 in eine Krise stürzte und die Zinsen für Hypotheken nach oben trieb, die Partys in der Downing Street während der pandemiebedingten Ausgangssperren, die wirtschaftlichen Folgen des Brexit.
In Ashfield, wo die meisten Menschen einst für den Austritt aus der EU stimmten, sind diese nun von den Tories enttäuscht. Der versprochene Aufschwung für die Region blieb aus, sie fühlen sich im Stich gelassen. Es herrscht eine apathische Stimmung. Fotos aus dem frühen 20. Jahrhundert zeigen eine Gemeinschaft von Minenarbeitern, Feste, das große Kino in voller Pracht. Heute sind die meisten Läden geschlossen. Es herrscht Lehrermangel. Tagsüber wirkt die Stadt wie ausgestorben. Viele pendeln in umliegende Städte. Die Älteren fühlen sich übergangen und gegenüber irregulär eingereisten Migranten benachteiligt.
Nicht wenige sympathisieren deshalb mit der rechtspopulistischen Partei Reform UK unter Nigel Farage, der den Mut hätte zu sagen, was alle denken, so der Tenor einiger Senioren in der 25000-Einwohner-Stadt.
Die Jugend in Ashfield fühlt sich chancen- und perspektivlos, glaubt nicht an die guten Absichten der Regierung. „Die scheren sich nicht um uns“, so der 22-jährige Mckenzie Bull-Jones. „Die Leute haben einfach die Nase voll“, fasst Ali die Lage zusammen, der einen Barbiersalon betreibt. „Alles ist zu teuer, wir arbeiten nur noch, um die Rechnungen bezahlen zu können.“ Ausgehen? Essen gehen? Fehlanzeige. Dennoch glaubt er, dass Wandel möglich ist: „Wir hoffen, dass Labour gewinnt und sich etwas ändert.“
Ob Rhea Keehn in Ashfield gewinnen wird, ist jedoch noch offen. Aktuell liegt der Reform-Kandidat Lee Anderson leicht in Führung. Landesweit jedoch sieht John Curtice, ein britischer Meinungsforschungs-Guru, der seit Jahrzehnten die Wahlberichterstattung mitgestaltet, die Labour-Partei mit großem Abstand in Führung. Damit habe Keir Starmer in gewisser Weise ein Wunder vollbracht, sagt Bale. Denn die meisten Experten hätten 2019 wohl gelacht, wenn man ihnen gesagt hätte, dass Labour in fünf Jahren eine Parlamentswahl gewinnen könnte. Das liege natürlich an den Fehlern der Konservativen, räumt er ein. „Aber man muss auch in der Lage sein, diese auszunutzen.“
Wahl Großbritannien: Starmers radikaler Kurswechsel
Starmer machte deutlich, dass die Partei in die Mitte des politischen Spektrums gerückt sei, weg vom radikalen Sozialismus der Jahre von Jeremy Corbyn. „Das ist bedeutungsvoll für jene, die sich von den Konservativen abwenden“, sagt Bale.
Und das tun Briten offenbar in Scharen. Zuletzt lagen die Tories in den Umfragen bei etwa 20 Prozent, dem niedrigsten Wert aller Zeiten. Verteidigungsminister Grant Shapps antwortete auf die Frage, ob ein Sieg der Tories unwahrscheinlich sei: „Ich denke, das ist die realistische Position, nicht wahr?“ Er lebe in der realen Welt. Einer Umfrage zufolge könnte sogar Premierminister Rishi Sunak seinen Sitz verlieren. Das wäre historisch.
In London diskutieren derweil Experten der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“ die missliche Lage der konservativen Partei. „Sie sind in der schlechtesten Position aller Zeiten“, sagt Rob Ford von der University of Manchester. Derzeit sieht es so aus, als könnten von den bekannten Gesichtern insbesondere die rechten Hardliner ihre Posten behalten, darunter die umstrittene ehemalige Außenministerin Suella Braverman, sagt die Politologin Sophie Stowers. Die Folge könnte ein weiterer Rechtsruck sein.
Rechtspopulisten wohl ohne echte Chance
Dass die rechtspopulistische Partei Reform UK unter Farage, die sich vor allem für eine stärkere Kontrolle der Einwanderung ausspricht, genug Stimmen bekommt, um die Konservative Partei quasi abzulösen, glauben die Experten nicht. „Die Reformer haben eine sehr starke Anziehungskraft, aber es gibt viele Wähler, die definitiv nicht für sie stimmen werden“, so Ford.
Tatsächlich ist es eine andere Frage, die Experten derzeit intensiver beschäftigt. Labour will seinem Wahlprogramm zufolge die Einkommensteuern, die Sozialabgaben und die Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Damit grenzt sich Starmer von früheren Labour-Zeiten unter dem Sozialisten Corbyn ab. Auch die großen industriepolitischen Träume mit zig Milliarden Subventionen für „grünes Wachstum“ hat der Oppositionschef heruntergekocht. Doch woher soll das versprochene Wachstum dann eigentlich kommen?
Starmer wird mit Tony Blair verglichen, von dem es 1997 hieß, er habe den Wahlkampf geführt, als müsse er eine teure Ming-Vase über einen polierten Boden tragen. Der 61-Jährige macht vorsichtige Schritte, möchte kein Risiko eingehen, niemanden verprellen. Doch der Politologe Karl Pike von der Queen Mary University of London befürchtet, dass sich der Labour-Chef angesichts der vielen Probleme, die er angehen muss, etwa im Gesundheitswesen, nun ein finanziell zu enges Korsett angelegt hat. „Ich halte das für gefährlich“, sagt er dieser Zeitung. Labour werde wohl gewinnen. Doch die echte Herausforderung kommt nach der Wahl.